Gilberto Gil in Hamburg: Energievolle Musik über Medizin

Ansteckende Energie: Der brasilianische Popstar Gilberto Gil spielte am Sonntag in der ausverkauften Hamburger Elbphilharmonie.

Gilberto Gil sitzt vor einem Mokrofon. Der alte Mann mit den kurzen Haaren singt und spielt dabei Gitarre.

Gilberto Gil, hier bei seinem Münchner Konzert, Ende Juli Foto: Hannes Magerstaedt/getty

Nichts entsteht aus dem Nichts, und kein Mensch ist eine Insel. Es sind immer Verkürzungen, aus der Notwendigkeit – die Begrenzung, die bewusst verknappte Erzählung, die Unausweichlichkeit der schnellen Aufbereitung – und bisweilen auch aus Passivität und Bequemlichkeit geborene Vereinfachungen, die aus Teilen eines Netzwerks gegenseitiger Beeinflussung die vermeintlich alleinigen Begründer, Urheber, Erfinder von Bewegungen, Stilen, Trends machen: wie etwa Gilberto Gil, „Erfinder“ des Tropicalismo.

Die Wurzeln des Tropicalismo aber, jener kulturpolitisch-ästhetischen Bewegung, für die Gilberto Gil steht und die die Prinzipien der Vermischung von Eigenem und Fremdem ausrief, lassen sich bereits deutlich vor Gils Zeit verorten: 1922 fand in São Paulo die „Woche der Modernen Kunst“ statt, Zündungspunkt der Brasilianischen Moderne und frühes Musterbeispiel in Sachen Interdisziplinarität.

Unter den prägenden Figuren dieser Zeit: der Schriftsteller Oswald de Andrade, Verfasser des berühmten Manifesto Antropófago, in dem in angemessen großkotziger Haltung das Zeitalter der symbolischen Menschenfresserei ausgerufen wird. So wie die indigenen Völker Brasiliens ihre Feinde verspeisten, um deren Kraft in sich übergehen zu lassen, so galt es nun, sich die Kultur des europäischen Kolonisators einzuverleiben, sie mit den eigenen indigenen und afrikanischen Wurzeln durch den Fleischwolf zu drehen und sie als ureigenes Angeeignetes wieder auszuspucken.

Nichts entsteht aus dem Nichts, und kein Mensch ist eine Insel. Wenn das jemand weiß, dann ist das Gilberto Gil, der stets auf seine Beeinflussung durch andere Musiker_innen verwiesen hat. So auch am Sonntagabend in der ausverkauften Hamburger Elbphilharmonie, ein Abend, der in weiten Teilen der Aufführung seines neuen Albums „Ok Ok Ok“ gewidmet ist.

Musik über Biopsien

„Ok Ok Ok“ ist Gils erstes wirkliches Alterswerk, entstanden in einer Zeit schwerer Krankheit – er litt am kardiorenalen Syndrom und musste mehrmals operiert werden. Das äußert sich textlich nicht nur in der Thematisierung von Tod und Vergänglichkeit, sondern bietet ganz konkret Einsichten in ihre Behandlung. So etwa im zweiten Stück des Abends mit dem Titel „Quatro Pedacinhos“ („Vier Stückchen“), das von einer Biopsie und der Ärztin, die diese durchführte, handelt.

Andere Stücke sind (musikalischen) Weggefährten wie Yaman­dú Costa und der Familie – dem Enkel („Sereno“), der Urenkelin („Sol de Maria“) – gewidmet. Gerührtheit stellt sich ein, als Gil das philosophische „Se eu quiser falar com Deus“ dem kürzlich verstorbenen João Gilberto zueignet.

In Anbetracht der allgegenwärtigen geistigen und innertextuellen Präsenz von Freunden und Familie ist es nur folgerichtig, dass sich auf der Bühne Familienmitglieder aus der umfangreichen „Equipe Gil“ wiederfinden: seine Tochter Nara (Gesang) sowie die Söhne Bem Gil (Gitarre, Effekte) und José Gil (Schlagzeug). Bei „Goodbye, my girl“ vervollständigt die zehnjährige Flor Gil als souveräne Gesangspartnerin des Großvaters die anwesende Verwandtschaft.

Die erste Hälfte des Konzerts enthält einige ruhige und unbekannte Stücke, die außerdem im Sitzen vorgetragen werden. Vielleicht klingt Gilberto Gils Stimme etwas brüchiger, vielleicht sitzt nicht mehr jeder Sambaschritt – insgesamt ist es jedoch erstaunlich und mitreißend, mit welcher Energie der 77-Jährige das Publikum durchs Konzert führt und selbst die ZuschauerInnen, die seine Musik nicht kennen, spätestens bei den Zugaben von den Sitzen zu holen vermag.

Eine solche Energie verdankt sich Gils eigener Aussage nach dem Aufgehobensein in der großen Familie, bestehend aus Gleichgesinnten im Angesicht „schwieriger Zeiten“ (der einzige, sehr verdeckte Hinweis des ehemaligen Kulturministers Gil auf die aktuelle Situation in Brasilien). Und sie verdankt sich der steten Erneuerung und Vermischung, dem Weitermachen und dem, wie es im Manifesto Antropófago heißt, Überwinden von „Ideen und anderen Lähmungen. Durch Entwürfe. Den Zeichen glauben, den Instrumenten glauben und den Sternen.“

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