Diskussion um Einschulung: Alle mit dabei

Sollten Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen erst später in die Grundschule? Was ErzieherInnen und LehrerInnen von der Debatte halten.

Die Grundschullehrer Manuel Honesch und Anna Brinkmann stehen gemeinsam vor einer halb zugeklappten Schultafel in einem Klassenzimmer

Die Grundschullehrer Manuel Honisch und Anna Brinkmann in einem Klassenraum der Möwensee-Grundschule in Berlin Foto: Karsten Thielker

BERLIN taz | Wenn an diesem Samstag 73 neue Erstklässlerinnen und Erstklässler an der Möwensee-Grundschule im Norden Berlins eingeschult werden, hat Manuel Honisch sie im Kopf schon sortiert. Nach Kindern, die keine Reime erkennen. Nach Jungen, die ihren Namen falsch schreiben. Nach Mädchen, die Sätze unvollständig formulieren.

Die ganze Woche über haben der Sonderpä­da­goge und andere Lehrkräfte der Schule die Kinder einzeln für je eine Stunde getestet: auf Motorik, auf Konzentrationsfähigkeit und Zahlenverständnis – und eben auf Deutschkenntnisse. In den kommenden Wochen folgen noch Tests in der Kleingruppe und der gesamten Klasse. Doch schon jetzt ist sich Honisch sicher: „Mehr als die Hälfte hat Sprachförderbedarf“.

Zum Beweis hat Honisch – kurze Hose, Ohrringe, pinkes Hemd – einen Stapel weißer Hefte mit ins „Förderzimmer“ gebracht. Dieser Raum ist das Reich der beiden SonderpädagogInnen an der Möwensee-Grundschule. Hier treffen sie sich nachmittags mit ihren Sprachfördergruppen oder dem „Matheclub“, hier sind Honisch und seine Kollegin Anna Brinkmann nun verabredet, um die Tests der neuen ErstklässlerInnen zu sichten und Lernziele für die Förderbedürftigen zu formulieren.

Für viele wird die Empfehlung lauten, das „phonologische Bewusstsein“ zu trainieren, dafür reichen Brinkmann und Honisch nur wenige Blicke auf die Sprachübungen. Manche werden vielleicht ein richtiges Sprachtraining benötigen. Das könne man aber erst nach Ende aller Tests mit Sicherheit sagen.

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Was Honisch und Brinkmann aber jetzt schon wissen: Sie werden mit ihren beiden Teilzeitstellen nur die Kinder mit „intensiven Förderbedarf“ betreuen können. Im letzten Schuljahr waren das 40 Erst- und ZweitklässlerInnen, fast jedeR Dritte. Durch die Neuen, schätzen Honisch und Brinkmann, dürften 20 weitere Kinder hinzukommen, die dem Unterricht vermutlich nur schwer folgen können.

Keine Ahnung

Es ist keine neue Debatte, die in dieser Woche hochgekocht ist. Wie Schulen mit diesen Kindern umgehen sollen, darüber wird in Deutschland seit den 70ern leidenschaftlich gestritten. Jedes Bundesland hat seine eigene Antwort darauf gefunden, ob und wie lange SchülerInnen verschiedener Niveaus zusammen lernen sollen.

Seitdem die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD) 2005 jedoch als Erste das gegliederte Schulsystem aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium zugunsten einer Gemeinschaftsschule aufbrach, vertiefen sich die ideologischen Gräben wieder: zwischen den Verfechtern des getrennten Lernens, die um die Unterrichtsqualität fürchten – und den Befürwortern des integrativen Lernens, die darin den Schlüssel zu mehr Bildungsgleichheit für alle sozialen Schichten sehen.

Selten wurde das so eindrucksvoll sichtbar wie diese Woche, als der CDU-Haushaltspolitiker und Fraktionsvize Carsten Linnemann der Rheinischen Post ein Interview gegeben hat. Darin hatte er vor „neuen Parallelgesellschaften“ gewarnt und gefordert, Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse nicht einzuschulen. Zu seinen Äußerungen erhielt Linnemann Zustimmung, aber es gab auch viel Kritik.

Vom Thema keine Ahnung

„Man sieht, dass der Mann von dem Thema keine Ahnung hat“, sagt Sonderpädagoge Honisch. An seiner Schule sei der Sprachstand sehr niedrig und der Anteil der SchülerInnen mit Migrationshintergrund sehr hoch, 70 Prozent. Nichts Ungewöhnliches im Stadtteil Wedding. Honisch warnt aber vor falschen Rückschlüssen. Die Sprachdefizite der SchülerInnen hätten vor allem mit der sozialen Schicht und dem Mangel an Lernunterstützung durch Eltern zu tun.

Susanne Sachse, „Kindergärten City“ Berlin

„Es ist schwer, qualifiziertes Personal für die Sprachkitas zu bekommen“

„Wir haben ausländische Kinder aus Syrien oder Russland, die ohne ein Wort Deutsch an die Schule kommen und in erstaunlich kurzer Zeit dem Unterricht folgen können. Und wir haben deutsche Kinder, die mit erheblichem Förderbedarf an die Schule kommen und später die Schule abbrechen.“ Honisch ärgert sich vor allem über Linnemanns Alternative zur Einschulung: eine verpflichtende Vorschule für alle Kindern, die kaum Deutsch sprechen. „Wie sollen die Kinder Deutsch lernen, wenn sie keine Sprachvorbilder um sich herum haben?“

Tatsächlich ist diese Praxis längst verbreitet, in Hessen beispielsweise. Allerdings ist die Teilnahme an den Vorlaufkursen dort freiwillig. Der Berliner Senat hingegen hat vor Jahren die Vorschulklassen abgeschafft und stattdessen eine flexible Schuleingangsphase eingeführt. An der Möwensee-Grundschule lernen Erst- und ZweitklässlerInnen zusammen; wer nicht weit genug ist, bleibt noch ein drittes Jahr.

Zwar hat die Berliner SPD zuletzt ins Spiel gebracht, das letzte Kitajahr vor der Schule zur Pflicht zu machen, um auch die letzten 5 bis 7 Prozent Abstinenzler an die Kitas zu bringen. Auf taz-Anfrage äußert sich der Berliner Senat aber ablehnend zu den Vorschlägen Linnemanns: „Natürlich ist es wünschenswert, dass Kinder vor der Einschulung Deutsch lernen und so gut in die Schule starten können.“ Das aber sei kein Grund, Kinder, die nicht gut Deutsch können, länger von der Schule auszuschließen.

Stattdessen setzt Berlin wie fast alle anderen Bundesländer auf frühzeitige Sprachförderung schon im Kita-Alter. Acht Bundesländer testen sämtliche Kinder mit vier oder fünf Jahren, also bis zu zwei Jahre vor dem Schuleintritt. Woanders werden nur nichtdeutsche Kinder getestet (Bayern), oder solche, die keine Kita besuchen (Nordrhein-Westfalen). In Hessen ist der Test freiwillig. Nur Schleswig-Holstein und Thüringen prüfendie Deutschkenntnisse gar nicht.

Insgesamt setzen die 16 Bundesländer 21 zum Teil sehr verschiedene Tests, Beobachtungen oder Screenings ein. Eine bundesweite Aussage über die Sprachkenntnisse im Vorschulalter lässt sich damit nicht treffen. Eines lässt sich anhand der Testergebnisse jedoch mit Sicherheit sagen: Das Problem, das Linnemann angesprochen hat, exisitiert. Und zwar seit vielen Jahren. Teilweise liegt der Anteil der Vorschulkinder mit Sprachförderbedarf bei fast 40 Prozent. In Berlin ist er mit 15 bis 17 Prozent in den vergangenen Jahren noch vergleichsweise niedrig. Wer Förderbedarf hat, bekommt bis zu 18 Monate Sprachförderung – und bis zu 25 Stunden pro Woche. Länger und mehr als in den meisten anderen Bundesländern. Also alles gut in den Hauptstadt-Kitas?

Viel Sprechen

Mitnichten, findet Susanne Sachse. Sachse arbeitet seit 2011 bei dem Berliner Kita-Träger „Kindergärten City“, erst als Zusatzfachkraft für Sprache, mittlerweile koordiniert Sachse alle sogenannten Sprachkitas ihres Trägers, immerhin 44 der insgesamt 56 Einrichtungen. Sprachkitas sind durch Bundesgelder geförderte Kitas, die mindestens 40 Prozent der Plätze an Kinder mit „nichtdeutscher Herkunftssprache“ vergeben und neben der „alltagsintegrierten“ Spracharbeit die inklusive Pädagogik als ihren Schwerpunkt sehen und bewusst die Eltern einbeziehen. Dafür gibt es Geld für – je nach Größe – ein bis zwei halbe Zusatzstellen für die Sprachbildung.

„Das Konzept der Sprachkitas ist wirklich gut“, sagt Sachse. „Allerdings ist es schwer, dafür qualifiziertes Personal zu bekommen.“ Das liegt auch daran, dass die Stellen der Zusatzfachkräfte, die über das Bundesprogramm finanziert sind, im Dezember 2020 auslaufen. Allein beim Träger „Kindergärten City“ würden 36 Stellen wegfallen, sollte das Familienministerium das Programm nicht verlängern.

Dabei ist der Fachkräftemangel jetzt schon gravierend. Nach Angaben der Bildungsgewerkschaft GEW fehlen derzeit bundesweit rund 100.000 ErzieherInnen. Bis 2025 werde die Lücke sogar auf über 500.000 anwachsen. Und weil es sehr viele Kita-Träger gibt – allein in Berlin 1200 –, ist der Austausch zwischen Grundschulen und Kitas über mögliche Lerndefizite einzelner Kinder nicht leicht. Auch, weil viele GrundschullehrerInnen zu große Klassen haben, um mit vielen verschiedenen Kitas im Kontakt zu sein.

Die Äußerungen des CDU-Politikers Linnemann hält Sachse für „nicht hilfreich“. Erstens, weil Zurückstellungen um ein Jahr aus Gründen mangelnder Sprachkenntnisse zwar selten, aber in begründeten Fällen durchaus gemacht würden. Und zweitens, weil ihr wie vielen die Stigmatisierung nichtdeutscher Familien aufstößt. „Wenn ein Kind in der Kita noch nicht gut Deutsch spricht, schließt das den Schuleintritt nicht per se aus.“

Vor allem Kinder, die ihre Muttersprache fließend sprechen, könnten eine Fremdsprache in sechs Monaten lernen, wenn sie gute Bedingungen dafür finden.“ Natürlich wäre es aber wünschenswert, wenn alle Kinder frühzeitig eine Kita mit ausreichend geschultem Personal besuchen – und dort mit den MuttersprachlerInnen zusammen Deutsch lernen.

An der Möwensee-Grundschule zeigen sich Manuel Honisch und Anna Brinkmann einigermaßen optimistisch. „Wir sehen, dass wir was etwas mit unserer Arbeit erreichen“, sagt Honisch. Etwa die Hälfte der „Intensivfälle“ könnten sie in den ersten beiden Schuljahren an das Sprachniveau des Restes annähern. „Mehr geht einfach nicht“. Eigentlich stehen der Schule vier volle Stellen für SonderpädagogInnen zu. Honisch und Brinkmann haben zusammen 1,5 Stellen. Den Rest hat der Schulleiter bisher nicht besetzen können. „Wir arbeiten hier nur mit den Supernotfällen“, sagt Honisch. Dieses Jahr können er und seine Kollegin nur mehr 5 Sprachfördergruppen anbieten, letztes Jahr waren es noch 7. Für die 73 neuen Schülerinnen und Schüler der Möwensee-Grundschule heißt das: Wer so einigermaßen mitkommt, wird nicht speziell gefördert, geht aber immerhin in die Schule – und kann Deutsch lernen.

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