„Das wahre Hindernis ist die Partei in Peking“

Der Aktivist Ray Wong ist aus der Millionenmetropole Hongkong in die niedersächsische Provinz nach Göttingen gekommen. In seiner Heimatstadt droht ihm eine Gefängnisstraße und schlimmstenfalls die Auslieferung an China

Diesen Mittwoch in Honkong: Demonstrant *innen fordern die Freilassung eines inhaftierten Studenten Foto: Miguel Candela/dpa

Interview E. F. Kaeding

taz: Herr Wong, in Hongkong leben über sieben Millionen Menschen, Göttingen ist eine Stadt mit etwa 120.000 Einwohnern. Wollten Sie nach Göttingen?

Ray Wong: Das lag nicht in unserer Hand. Im Zuge der Anerkennung auf Asyl war eine Bedingung, dass wir uns in Niedersachsen niederlassen sollten. Das Bamf [Bundesanstalt für Flüchtlinge und Migration, Anm. d. Red.] hat uns während des Bearbeitungsprozesses dann einem Flüchtlingscamp in Göttingen zugewiesen.

Wie gestaltet sich die Eingewöhnung für Sie?

Der größte Unterschied für mich liegt im Verhältnis der Menschen untereinander. In einer kleinen Stadt wie Göttingen ist man sich hier viel näher, wodurch engere Beziehungen entstehen. Daran musste ich mich erst gewöhnen. Ein weiterer Vorteil ist, dass Göttingen als Universitätsstadt viele junge Menschen unterschiedlichster kultureller Herkunft beheimatet. Dadurch erweitert sich mein Blick auf die Welt. Und weil es hier deutlich weniger Freizeitaktivitäten als in Hongkong gibt, kann ich mich auch viel besser auf mein Studium konzentrieren.

Ihre Gruppe protestierte 2016 für den Erhalt eines traditionellen Street-Food-Marktes. Die Polizei wollte diesen räumen. Es kam zur Auseinandersetzung, in deren Folge sie als Anführer wegen Anstiftung zur Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt wurden. Was führte zum Entschluss, Ihre Heimat zu verlassen?

Ich glaubte nicht, dass man mir ein faires Gerichtsverfahren zugestehen würde. Die Regierung Hongkongs nutzt neuerdings für ihre Anklagen gegen politische Aktivisten ein altes Gesetz zur öffentlichen Ordnung aus der Kolonialzeit, die „Public Order Ordinance“, das eher vage formuliert ist. Die Regierung interpretiert es nun auf eine Weise, die die Versammlungsfreiheit massiv einschränkt und durch die die Teilnehmer von Protesten sich strafbar machen. Mir, meinem Kollegen Alan [Li, Anm. d. Red.] und allen anderen drohten damit langjährige Haftstrafen. Edward Leung, der Sprecher unserer Gruppe, wurde erst kürzlich zu sechs Jahren Haft verurteilt.

Sie und Ihr Kollege Li sind der erste bekannte Fall, bei dem Aktivisten aus Hongkong politische Zuflucht gewährt wurde. Fühlen Sie sich in Deutschland vor dem chinesischen Geheimdienst sicher?

Peking hat sich während des Asylprozesses tatsächlich in Berlin gemeldet und darum gebeten, mir kein Asyl zu gewähren. Der Versuch der Einflussnahme wird aus einer Reihe von internen E-Mails aus unterschiedlichen deutschen Ministerien ersichtlich. Ich bin davon überzeugt, dass Peking alles in ihrer Macht Mögliche unternehmen würde, um mich im Auge zu behalten. Allerdings bezweifle ich, dass ich so wichtig für sie bin, dass sie mich zum Beispiel entführen zu lassen würden. In Deutschland fühle ich mich daher sicher.

Göttingen ist bekannt für seine linke Szene. Werden Sie vor Ort politisch aktiv sein?

Der Fokus der Aktivisten in Göttingen liegt eher auf regionalen und lokalen Themen, daher spielt sich meine persönliche politische Arbeit bisher primär in Berlin ab. Aber ich würde meine Vorstellungen und Erfahrungen gerne auch in Göttingen mitteilen, zumal es hier sehr viele chinesische Studenten gibt. Es wäre großartig, wenn ich sie über die Menschenrechtslage in China aufklären könnte. Wegen der dortigen eingeschränkten Redefreiheit ist es schwer für sie, darüber genauer Bescheid zu wissen.

Grund der jüngsten Proteste ist das sogenannte „Auslieferungsgesetz“, das es erlauben würde, Gefangene an China zu überstellen. Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam hat das Gesetz mittlerweile als „tot“ bezeichnet. Gibt es keine Lösung, mit der beide Parteien zufrieden sein könnten?

Der Protest gegen das Auslieferungsgesetz ist Ausdruck eines tiefer liegenden Konflikts: der Weigerung der Menschen in Hongkong, sich der Herrschaft Pekings zu unterwerfen. Es gibt daher nur einen Ausweg: Hongkong muss eine Demokratie bleiben. Ansonsten, vermute ich, könnten sich die Proteste bald zu Anti-China Protesten auswachsen und Stimmen für eine Abspaltung Hongkongs von China lauter werden.

Die Proteste in Hongkong haben sich aus dem Finanzzentrum der Stadt in das Shopping-Viertel Kowloon verlagert. Warum?

Nach Kowloon fahren viele Touristen vom chinesischen Festland zum Einkaufen. Die Verlagerung der Proteste ist daher auf jeden Fall ein kluger Schachzug und offenbart den Fortschritt der Pro-Demokratie-Bewegung in Hongkong. Denn das wahre Hindernis ist nicht die Regierung in Hongkong. Es ist die Kommunistische Partei in Peking. Die Demonstranten wissen, was die Achillesferse Chinas ist: die innere Stabilität. Diese versuchen sie nun zu untergraben, um ihre Verhandlungsposition zu stärken.

Glauben Sie, dass diese Taktik Erfolg hat?

Die Welt erkennt gerade, wie stark die Menschen in Hongkong sind und wie stark ihr Bedürfnis nach demokratischen Werten ist. Und China hat erkannt, auf welchen Gegner es sich eingelassen hat. Solange die Hongkonger nicht aufhören zu kämpfen, bin ich überzeugt, dass wir gewinnen werden.

Foto: Fotoprivat

Ray Wong, 25, ist Gründer der Gruppe “Hong Kong Indigenous”, die aus der Regenbogen-Bewegung 2014 entstanden ist. Als sogenannte „Lokalisten” fordern sie mehr Autonomie für Hongkong. Wong beginnt im Wintersemester 2019 in Göttingen ein Studium der Philosophie und Politikwissenschaften.

Wie groß sind die Unterschiede zwischen China und Hongkong noch?

In Hongkong gibt es Religionsfreiheit, der Zugang zum Internet ist noch frei, und es gibt Pressefreiheit – wenn sich die Lage auch zunehmend verschlechtert. Noch gibt es also Unterschiede. Aber sie werden immer unscheinbarer.

Werden die Proteste erneut aufflammen und noch gewaltsamer werden?

Da hängt vom Verhalten der Regierung in Hongkong ab. Ausreichend Gründe für eine Eskalation seitens der Demonstranten gibt es. Sei es die Ignoranz der Hongkonger Regierung im Allgemeinen oder im Einzelfall der Tod junger Pro-Demokratie-Aktivisten. Solange in Hongkong weiter Demokratieabbau betrieben wird, solange wird es auch das Bedürfnis geben, gegen die Regierung in Hongkong und Peking zu kämpfen.

Viele ihrer politischen Mitstreiter sitzen in Haft oder wurden aus dem politischen Leben gedrängt. Ist ihre Bewegung am Ende, bevor sie richtig begann?

Ich würde nicht sagen, dass die Bewegung am Ende ist. Auch wenn ich nie gedacht hätte, dass diese schlimme Entwicklung, wie sie gerade stattfindet, in einer der modernsten Städte Asiens passieren könnte. Es gibt für uns nun vielleicht weniger Platz in Hongkong. Aber dafür haben wir jetzt international Möglichkeiten erhalten, um Aufmerksamkeit auf unser Anliegen zu lenken.