Start des Sommerfestivals Kampnagel: Volkstanz, der mehr will

Mit dem Tanzstück „Marry Me in Bassiani“ startet das Hamburger Theaterfestival. Ein zwar ambitionierter, aber nicht überzeugender Abend.

Männer und Frauen umkreisen paarweise einen Tanzmeister in der Mitte.

Männer und Frauen im georgischen Tanz einer Hochzeitsfeier Foto: Kampnagel/Aude Arago

Ihre Suche führte sie zurück, zurück zu den Ursprüngen, den Wurzeln des Tanzes. Nachdem das Medienkunstkollektiv (La) Horde im vergangenen Jahr mit Jumpstyle-Tänzen zu harter Technomusik gearbeitet hatte, machte es sich anschließend auf die Suche nach möglichen Einflüssen und nach der Herkunft dieses Tanzstils. Und fand diese schließlich bei den Volks­tänzen in Georgien. So zumindest wird die Geschichte im Programmzettel zu „Marry Me in Bassiani“ erzählt, der aktuellen Arbeit von (La) Horde.

Würde man diese Zeilen nicht lesen, ließe einen die Aufführung auf Kampnagel in Hamburg noch ratloser zurück. Vielleicht aber ist das alles auch nur ein Recherchemärchen oder hübsche Dramaturgenprosa, die mit klugen Worten elegant zwei Welten verknüpft, die einander fremder nicht sein könnten.

„Marry Me in Bassiani“ eröffnet das diesjährige Sommerfestival auf Kampnagel mit 15 unbestritten fantastischen Tänzer*innen der georgischen Iveroni Group. Erzählt wird von einer Hochzeitsgesellschaft. Seit Jahrhunderten durchdekliniert und klar verabredet sind die Choreografien, unverrückbar die Abläufe.

Laut, rhythmisch und ein bisschen sehnsuchtsvoll

Da tanzen die Frauen auf der einen Seite, die Männer auf der anderen, mal kreuzen sich die Gruppen, streben zu- und auseinander. Da flirren schnelle Beinwechsel, fliegen bei den Drehungen Jackettschöße und blitzen auch mal Funken sprühende Schwerter auf. Dann und wann lockern artistische Einzelauftritte die äußerst exakten Gruppenchoreografien auf. Dazu erklingt georgische Volksmusik. Laut, rhythmisch und auch ein bisschen sehnsuchtsvoll. Bald klatschen und trommeln die Tänzer*innen auf den Boden. Die Hochzeitsparty ist in vollem Gange.

Volkstanz, das erzählt dieser Abend, ist in Georgien keine verstaubte Tradition. Er ist Teil der gelebten Kultur – bereits im Kindergarten lernen die Kinder die Grundbewegungen –, und dieser Tanz macht stolz. Auch wenn er heute vornehmlich auf Hochzeiten getanzt wird, so spielt er doch in diesem geschichts- und kriegsgebeutelten Land eine wichtige identitätsstiftende Rolle. So weit, so legitim.

Ein Reiterstandbild wird zerstört

Der Bogen zur Gegenwart, den das Künstlerkollektiv, das demnächst die Leitung des Ballet National de Marseille übernimmt, schlagen will, kommt irritierend pathetisch daher: Die Kulisse von Julien Peissel zeigt im Hintergrund das georgische Parlament, ein Gebäude im Stil des sozialistischen Klassizismus. Mittig steht eine Nachbildung des monumentalen Reiterstandbilds des Königs Wachtang I. Gorgassali, des Stadtgründers von Tiflis. Der Mann auf Schlachtross wird später fast zärtlich geköpft, das Nationalsymbol entkräftet.

Und, vorhersehbar genug, am Ende des Abends schiebt sich die Architektur der Macht nach vorn und drängt die Tänzer*innen in die Enge zwischen Bühne und Tribüne. Doch bald leistet die Kompanie dagegen Widerstand und schafft sich wieder Raum zum Tanzen.

Dass Marine Brutti, Jonathan Debrouwer und Arthur Harel, die Gründer von (La) Horde, eigentlich auf die jüngere Geschichte des Technoklubs Bassiani in Tiflis verweisen wollen, erzählen tatsächlich nur der Titel und die selten aufwummernden Elektrobeats.

Protest-Rave vor dem Parlament

Im Mai 2018 hatten schwer bewaffnete Polizeieinheiten den Klub gestürmt, mehr als 60 Feiernde sowie die Klub-Betreiber festgenommen. Tags darauf hatten sich Tausende vor dem georgischen Parlamentsgebäude zu einem Protest-Rave versammelt und für ihre Freiheiten, für ihre Subkultur demonstriert. Wieder erzählte dabei der Tanz von Identität, Widerstand und Wehrhaftigkeit. Und auch wenn die Geschichte des mit dem Techno assoziierten Jumpstyle verhältnismäßig jung ist, so verweist sie – laut dem Künstlerkollektiv – wohl auf weit zurückliegende, geor­gische Traditionen.

Von den inhaltlichen Ambitionen von (La) Horde kommt wenig rüber an diesem Abend. Und würde in manch seltener Szene nicht ein Funke Modernität durchblitzen, wäre da nicht hin und wieder eine kleine, ungereimte Tempoverschiebung, wähnte man sich leicht in einer folkloristischen Veranstaltung der Reihe „Tänze aus aller Welt“, kollektives Raunen und Staunen über Präzision und Sprung-Artistik inklusive. Es ist ein Abend, der viel will und recht wenig erzählt. Und als Auftaktveranstaltung im schlimmsten Fall sinnstiftend werden kann für das von András Siebold kuratierte Festival.

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