„Dieser wundervolle Gesang“

Berlin ist „Nachtigallenstadt“, gleich drei Institute erforschen die Vögel. Dieser Tage fliegen die Nachtigallen gen Afrika, dort üben die Jungen das Singen fürs kommende Jahr

Luscinia vera, die Nachtigall, auf historischen Illustrationen der Sammlung der Universität von Amsterdam, 1700–1880 Foto: University of Amsterdam

Von Helmut Höge

„Bald singen sie wieder“, hieß es Anfang April in der taz. Nun haben sie aber schon seit Wochen wieder aufgehört – die Nachtigallmännchen, die erst weit nach Mitternacht richtig losschmettern. „Die Männchen singen nachts, weil die Weibchen das so wollen“, haben die Nachtigallforscher der Universität Basel herausgefunden, indem sie einige Weibchen fingen, ihnen Sender umschnallten und wieder freiließen. „Die verpaarten Artgenossen zwitschern morgens früh und in der Dämmerung am lautesten – zur Revierverteidigung“, erläuterten die Basler dem Spiegel.

Der Stuttgarter Antiquar und Ornithologe Walther Steffen schreibt in seinem Buch „Magie der Vogelstimmen“ wiederum, dass die Nachtigallen anfangs noch verhalten singen, „sie tragen aber nach Besetzung ihres Territoriums und dem Eintreffen der Weibchen Ende April ihren ausdrucksstarken Vollgesang vor. Dann singen einige Männchen 10 bis 20 Stunden täglich.“

Ins Winterquartier

Dieser Tage beginnen sie – des Nachts – nach Afrika zu fliegen. Die Savannen südlich der Sahara erreichen sie laut Nabu „ab Anfang September, danach verlangsamt sich der Zug ins Winterquartier“. Dort sollen die Männchen sich angeblich schon bald auf ihren nächsten Paarungsgesangs-Auftritt in Mitteleuropa vorbereiten, wenn auch noch nicht gleich wieder so gekonnt.

Man sieht selten eines ihrer in Büschen versteckten Nester, dabei brüten in Deutschland rund 95.000 Paare. „Das Weibchen bebrütet vier bis sechs Eier rund zwei Wochen lang und wird derweil vom Männchen gefüttert. Danach werden die Nestlinge von beiden gefüttert, bis diese nach etwa elf Tagen – noch nicht voll flugfähig, wie die meisten Bodenbrüter – das Nest verlassen. Ein kühles, nasses Frühjahr kann zu Brutverlusten bis zu 90 Prozent führen.“ Das kann man von diesem Frühjahr nicht behaupten, allerdings fiel es den Brutpaaren schwer, genügend Insekten für ihre Jungen zu finden. „Im Spätsommer fressen sie zusätzlich Beeren und Früchte, wie Johannis- und Holunderbeeren.“

Lange Zeit galt Halle als die deutsche „Nachtigallenstadt“. Dort befand sich die Nachtigallenforschung der DDR. Angeblich haben die Westbiologen dann das dortige „Zentrum für Stadtökologie“ nahezu abgewickelt. Nach der Wende bekam Berlin den Titel „Nachtigallenstadt“ – und gleich drei Institutionen erforschen hier den unscheinbaren Vogel: die Freie Universität, das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung und das Naturkundemuseum.

Die FU-Biologen um die Ornithologin Silke Kipper konzentrierten sich über zehn Jahre lang auf die Nachtigallen im Treptower Park, deren Gesang sie mithilfe von Parabolantennen aufnahmen. Mit Computerprogrammen analysierten sie Lautfolgen und Tonhöhen des Gesangs und stießen dabei auf viele erstaunliche Details, die dem menschlichen Ohr oft verborgen bleiben – aber nicht den Nachtigallweibchen, wie der Tagesspiegel schrieb. Blutproben von Männchen und Küken ergaben, dass jedes fünfte „fremdgezeugt“ ist. Eine weitere FU-Forschung an 35 gefangenen Nachtigallen wurde nach Einreichung von 127.000 Protestunterschriften verboten.

Das seit 2016 laufende „Nachtigallprojekt“ des Naturkundemuseums und des Leibniz-Instituts ist ein „Mitmachprojekt“: Man brauchte dazu ein Smartphone, um den Gesang aufzunehmen, und machte eine Ortsangabe. Auf einer Audio-App konnte man sich das dann anhören. So entstand nach bereits 50 Aufnahmen ein schöner Plan (auf „nightingale.berlin“), wo die Nachtigallen sangen.

Der taz-Autor Andrew Müller berichtete Ende April, dass zu den Nachtigallforschern am Naturkundemuseum die Ururenkelin von Darwin, Sarah Darwin, stieß, die nach „Dialekten“ im Gesang suchte. Auch das Museum entwickelte eine App, mit der sich Citizen Scientists beteiligen können. Das dokumentiert nun eine Internetseite „forschungsfallnachtigall.de“, auf der man eine Europakarte mit den „georeferenzierten Nachtigallgesangs-Aufnahmen der Saison 2018“ findet.

August Strindberg berief sich 1920 in seinem „Blaubuch“ im Kapitel über „Dialekte“ beim Nachtigallgesang auf den Vogelkundler Johann Bechstein, und seine Aufzeichnung des Gesangs der „Nachtigall Thüringens“, der dem Gesang der schwedischen Nachtigall ähnelt:

„Tjuu tjuu tjuu tjuu, spe tiu zqua. Tjoh tjoh tjoh tjoh tjoh tjoh tjoh tix: Qutio qutio qutio qutio, zquoh zquoh zquoh zquoh tzy tzy tzy tzy tzy tzy tzy tzy, tzy, tzi, quorror tiu zqua pipiquisi.“

Während Aristophanes in seiner Komödie „Die Vögel“ den Gesang der griechischen Nachtigall einst ganz anders wiedergab: „Epopopopopopopopopopoi, Ió ió, itó itó itó itó triotó triotó totobrix deuro deuro deuro deuro. Torotorotorotorolililix torotix torotix popopopopopopu, titititititititina.“Sind das zwei verschiedene Nachtigallarten oder zwei völlig unterschiedlich Hörende?

Vor einigen Jahren hielt der Berliner Biologe Cord Riechelmann einen Vortrag in einem Seminar von Friedrich Kittler über die Entwicklung von Arten aus dem Gesang – am Beispiel der Nachtigall.

Blutproben von Küken ergaben, jedes fünfte ist „fremdgezeugt“

Über die Grenze

Dabei erfuhr ich, dass es jenseits der Oder keine Nachtigallen gibt, was dort so singe, das seien Sprosser. Dann war also die berühmte „Nachtigallenschule von Kasan“, von der die Schriftstellerin Jewgenia Ginsburg berichtete, dass die Bolschewiki neben allen anderen Schandtaten auch diese auf dem Gewissen hätten, indem sie den großen alten Eichenwald dort fällten, genau genommen ein Sprossergymnasium!

Beider Gesang gilt als der schönste und ist nicht angeboren, sondern eine Kunst. Man spricht bei ihnen von Schwesternarten. In Frankfurt (Oder) kommen sie sich bis auf Hörweite nahe. Und dort passiert es gelegentlich auch, dass die eine mit der anderen einen Roman anfängt. Der bleibt jedoch fruchtlos, denn sie sind artmäßig so weit voneinander entfernt – schon oder noch, dass kein Nachwuchs daraus entsteht. Dennoch lassen die Nachtigallen und Sprosser nicht nach. Riechelmann vermutet, dass es irgendwann auch klappen werde, also dass sie sich immer weiter annähern, bis sie sich vermehren können.

Trösterin der Nacht

Eine andere Nachtigall-Geschichte erfuhr ich von einer Pankower Filmerin, die mit einem mir unbekannten Mann einen Parkspaziergang in Reinickendorf unternommen hatte: „Durch seine beim Gehen leicht nickende Körperhaltung ist er schon von Weitem als ein besonders höflicher Mensch zu erkennen. Wir schlichen durch die Büsche und er erzählte mir: ‚Ich war Bauleiter von mehreren Baustellen gleichzeitig. Eigentlich bin ich Architekt gewesen. Dann aber kam die Wende und ich habe plötzlich Tag und Nacht nur noch durchgearbeitet. Alle verloren ihren Job, und ich hatte drei auf einmal. Dann habe ich einen Fehler gemacht. Will ich nicht weiter ausführen. Ich war eben verantwortlich und nicht versichert. Hatte gar nicht gewusst, dass es das gibt, ich sollte sehr viel Geld bezahlen und es kamen viele böse Briefe. Eines Tages ging ich aus der Wohnung und die Tür fiel ins Schloss. Da merkte ich, dass ich meine Schlüssel drinnen liegen gelassen hatte. Ich dachte nur: Das war’s jetzt – und zog in die Welt. Zunächst zum Kienhorstpark hinter dem Paracelsusbad. Mochte ich schon immer, die Gegend. Hier verbrachte ich also meine allererste Nacht ohne Wohnung: unter diesem Baum … genau hier! Und wie ich da so lag, da sangen vier oder fünf Nachtigallen. Die ganze Nacht dieser wundervolle Gesang. Ich war wie verzaubert. So ein ganz freies Gefühl haben mir diese Vögelchen geschenkt.‘“