„Niemand stirbt in der Mitte seines Lebens“

Lebensrausch und Totentanz im Radialsystem: „Nico and the Navigators“ spielen in ihrem szenischen Konzert mit der Sterblichkeit

Von Katrin Bettina Müller

Plötzlich ist es Winter. Draußen vor dem Radialsystem natürlich nicht, da fahren die Partyboote über die Spree, am Ufer fächelt man sich Luft zu, und es ist auch abends noch heiß. Drinnen aber werfen sich Sänger und Tänzer Pelze über und schwarze Mäntel, Boas aus schwarzen Federn und dunklen Kapuzen. Als könnte man sich so vor dem Tod schützen, der Kälte des Sterbens und der Angst davor. Denn sie durchqueren das Feld vor dem Lebensende, „Niemand stirbt in der Mitte seines Lebens“ ist das weitgefächerte Programm von Liedern übertitelt, die von der altehrwürdigen Musik (John Dowland, Claudio Monteverdi, Bach) über ein breites romantisches Mittelfeld (Schubert, Tschaikowsky, Chopin, Mussorgsky) bis in die Gegenwart (Lou Reed, Leonhard Cohen) reichen.

Die Compagnie „Nico and the Navigators“ um die Regisseurin Nicola Hümpel spielt seit 20 Jahren in Berlin an immer wechselnden Orten. Musiker, Schauspieler, Tänzer und Sänger gehören dazu, sie bearbeiten Theater und Musikgeschichte. Das szenische Konzert „Niemand stirbt in der Mitte seines Lebens“ wurde im Konzerthaus Berlin im März uraufgeführt.

Das Verhältnis zum Tod verändert sich, und das spiegelt sich in der Musik. Kann man sich heute noch vorstellen, Totenmasken der verstorbenen Familienmitglieder aufzuhängen?, fragt die Schauspielerin Annedore Kleist. Einer ihrer Monologe gilt der Sorge um die Gesundheit, Gene, Sport, Ernährung, Stressmanagement, breit gefächert sind die Themen, die in diesem Kontext plötzlich wie ein großer Apparat wirken, den Gedanken an die eigene Sterblichkeit weit von sich weg zu halten.

Yui Kawaguchi und Ruben Reniers haben etwas Archaisches und Groteskes in ihren Tänzen. Aus ihren Fellkostümen schnellen oft nur die Arme hervor, die Hände greifen wie Klauen. Sie könnten Geister sein, die zwischen Lebenden und Gestorbenen vermitteln. Mal stemmen sie sich gegen die Sänger, geben Widerstand oder zerren an ihnen und die Lieder verändern damit ihre Energie, intensivieren sich im Ausdruck. Selten schalten sie sich mit einer Illustration ein, dann werden sie zum kräftig, fast volkstanzenden Paar. So auch in „Dance me to the end of love“, der Ort eine Leichenhalle, wo rechts und links schon die Toten liegen.

Es ist nicht nur Trauer und Melancholie, die von den Liedern transportiert wird. Sondern manchmal auch eine unerwartete Freundschaft mit dem Tod, ein Warten auf ihn, eine Begrüßung. Wenn die Sopranistin Julla von Landsberg „Komm, großer schwarzer Vogel“ von Ludwig Hirsch singt, immer wieder von Lachen unterbrochen, ist das von unglaublicher Zustimmung. Wenn der Tenor Ted Schmitz sich in der Arie „Vorrei morire“ von 1878 dagegen vorstellt, an einem Frühlingstag sterben zu wollen, wenn die Vögel singen, mag man zwar von der lyrischen Stimmung hingerissen sein, stolpert dann aber doch über zu viel Süße und Verklärung. Wenn der Bariton Nikolai Borchev von Joseph Haydn „Das Leben ist ein Traum“ singt, und von Ted gefragt wird, klingt das jetzt nicht wie eine Bierreklame, wäre man da selbst gerade nicht drauf gekommen. Die Gefühle, die von der Musik entzündet werden, nehmen schon den größten Raum ein, aber wie sie sich gegenseitig kommentieren, oder gelegentlich auch ausscheren aus einer gerade eingeschlagenen Richtung, macht die Sache spannender.

Allerdings ist der Abend lang, nicht immer versteht man die Texte, die im Programmheft alle nachzulesen sind. Da ist es gut, dass Musiker und Tänzer ihren eigenen Weg durch das Material geschlagen haben und man sich über längere Passagen auch einfach ihrer Führung überlassen und den Tanz und die Musik genießen kann, ohne dabei über den Tod nachzudenken.