Kollektive Arbeit: Sozialismus ohne Klassenkampf

Auf dem Wohnungsmarkt, in der Landwirtschaft, im Netz: überall Kollektive. Wie daran gearbeitet wird, den Kapitalismus zu überwinden.

Erwachsene, ein Kind und ein Hund vor einem Traktor

Markus Poland (links) und Juliette Lahaine (rechts) gründeten eine Solidarische Landwirtschaft Foto: Frank Hormann/Nordlicht

BERLIN/KLEIN TREBBOW taz | Ein Innenhof, umsäumt von Backsteinbauten. Man hört Vogelgezwitscher, der Lärm Berlins scheint hier verbannt, dabei donnert die U-Bahn, oberirdisch, nur ein paar Meter entfernt die Schönhauser Allee entlang. Die Bremer Höhe, ein historisches Gebäudeensemble im Bezirk Prenzlauer Berg, ist das, wovon viele Großstädter träumen: sanierter Altbau, idyllisch und doch zentral. Und bezahlbar. Die Kaltmiete pro Quadratmeter liegt unter 6 Euro.

Ulf Heitmann blickt aus seinem Bürofenster in den Innenhof und sagt: „All das würde heute längst einem Immobilienkonzern gehören.“

Heitmann, ein nüchterner Jurist, und ein paar MitstreiterInnen bekamen 1999 Wind davon, dass Berlin den Gebäudekomplex mit ein paar Hundert Wohnungen verkaufen wollte. Sie gründeten eine Genossenschaft und kauften die Bremer Höhe. Hätte damals die Deutsche Wohnen oder ein anderer Konzern zugegriffen – die Wohnungen wären wohl längst Eigentum von Gutverdienern, oder die Mieter müssten ein Vielfaches zahlen.

Im Zentrum der Hauptstadt zu wohnen, zumal in angesagten Vierteln wie Kreuzberg oder Prenzlauer Berg, ist für die Mittelschicht, für LehrerInnen, Angestellte oder Krankenpfleger, kaum mehr möglich. In manchen Quartieren in Berlin-Mitte geben Mieter 48 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen aus. Die soziale Mischung verschwindet. Wer wenig Geld hat, wird an die Peripherie verdrängt.

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Wer in der Bremer Höhe leben will, braucht einen Wohnberechtigungsschein, das heißt, er muss ein geringes Einkommen nachweisen können. Wie lange müsste eine Familie mit zwei Kindern heute warten, um hier eine Wohnung zu bekommen? Heitmann schüttelt den Kopf. „Es wird mal eine Einraumwohnung im Erdgeschoss frei. Ansonsten keine Chance.“

12 Prozent der Wohnungen in Berlin sind genossenschaftlich, zusammen mit den kommunalen Gesellschaften ist ein knappes Drittel der Eigentümer also nicht auf Rendite aus. Ohne Genossenschaften wäre der Wohnungsmarkt in der Hauptstadt noch irrer.

Das Vertrauen in die Marktwirtschaft schwindet

Die Preise sind explodiert, weil Berlin jedes Jahr um knapp 40.000 Menschen wächst: Mehr Nachfrage – die Marktlogik treibt die Mieten in die Höhe. Noch gravierender: Global ist, auch wegen der niedrigen Zinsen, extrem viel Kapital auf der Suche nach Anlagen. „Wir wirken als Mietpreisbremse“, sagt Heitmann. Manchmal, erzählt er, kommen Regierungsdelegationen aus Asien, Israel und Osteuropa in die Bremer Höhe und lassen sich erklären, wie die Genossenschaft funktioniert: ohne Profitstreben. „Minister aus Osteuropa halten Genossenschaften eher für ein Überbleibsel des Kommunismus.“

Das Thema Eigentum, vor 15 Jahren noch etwas für Altlinke, ist wieder aktuell. Rot-Rot-Grün hat in Berlin einen Mietenstopp für fünf Jahre angeordnet. Eine Basisinitiative will per Volksentscheid gleich alle großen Wohnungsbaugesellschaften enteignen.

Ist der Kapitalismus nicht in der Lage, das elementare Bedürfnis nach Wohnen zu befriedigen? Brauchen wir nicht ohnehin längst ein anderes Wirtschaftssystem?

Eine Allensbach-Umfrage vom Januar 2019 ergab, dass das Vertrauen in die Marktwirtschaft schwindet. Auch im Digitalen scheinen die Märkte nicht zu funktionieren: Datenkonzerne wie Google und Facebook sind faktisch konkurrenzlos. In der Landwirtschaft hinterlässt die Ideologie des Immer-mehr kaputte Böden und Tiere.

Ulf Heitmann im grünen Innenhof der Bremer Höhe

Ulf Heitman ist Mitgründer der Wohnungs­baugenossen­schaft Bremer Höhe in Berlin Foto: Dagmar Morath

Ulf Heitmann ist skeptisch, was Enteignung auf dem Wohnungsmarkt betrifft. Sie wäre zu teuer. Allein die Deutsche Wohnen zu entschädigen würde bis zu 36 Milliarden Euro kosten. Auch der generelle Mietenstopp überzeugt ihn nicht. Beim Treffen Mitte Juni liegen in seinem Büro ein paar Hundert Briefe – Mieterhöhungsbegehren, die er noch verschicken will, bevor der Mietenstopp gilt. Die Mieten in der Bremer Höhe sollen von 5,50 auf 5,65 Euro steigen – das Geld braucht die Genossenschaft, um die Gebäude in Schuss zu halten.

Der Erfolg des Mietenstopps, der für fünf Jahre gelten soll, wird auch davon abhängen, ob es Rot-Rot-Grün gelingt, Mieten einzufrieren, ohne Genossenschaften ungewollt in den Ruin zu treiben. Das zeigt, wie schwierig es ist, entfesselte Märkte wieder zu bändigen.

Ohne radikale Lösungen geht es nicht

Im Mai hat ein Interview des Juso-Chefs Kevin Kühnert für Aufregung gesorgt. Einige Jahre zuvor wäre Kühnerts Idee, BMW zu verstaatlichen, wohl kaum wahrgenommen worden. Doch seit die Mieten in den Metropolen explodieren, ist auch die Mittelschicht empfänglich für radikalere Ideen.

„Die Debatte über Alternativen zum Kapitalismus wäre ohnehin gekommen“, sagt Annika Klose in einem Café im Berliner Wedding. Auf dem T-Shirt der Berliner Juso-Chefin steht „A strong woman never gives up“.

Klose spricht durchdacht, präzise. Die höhnische Kritik von FDP, CSU und auch Sozialdemokraten wie Peer Steinbrück kümmert sie nicht. „Es ist nicht die Aufgabe einer linken Partei, Konservativen und Marktliberalen zu gefallen“, sagt sie. Klar müsse man begreifen, dass es „negative Erfahrungen mit den Alternativkonzepten zum Kapitalismus“ gibt. Aber mit dem gescheiterten autoritären Sozialismus à la DDR habe man nichts gemein.

Klose glaubt: Unangenehme Wahrheiten hörten die Menschen immer noch lieber als die Lüge, dass alles in Ordnung sei. Und eine unangenehme Wahrheit laute eben: Ohne radikale Lösungen geht es nicht.

Klose findet, dass Genossenschaften „Freiräume im Kapitalismus“ schaffen. Aber auch, dass das nicht reicht. Die Jusos arbeiten deshalb an dem „Projekt Sozialismus“, sie suchen nach Ideen, die über die kapitalistische Logik hinausweisen, und erkunden, das ist der Anspruch, wie der demokratische Sozialismus 2019 aussehen könnte.

„Unser Ansatzpunkt ist die Demokratisierung aller Lebensbereiche, allen voran der Wirtschaft“, sagt Klose. Und: „Wir als Gesellschaft sollten demokratisch entscheiden dürfen, wie wir unsere ökologischen Ressourcen einsetzen.“

Annika Klose, Juso-Vorsitzende in Berlin Foto: Wolfgang Borrs

Die Jusos wollen den Kapitalismus überwinden. Ein Hirngespinst? Sollte Kevin Kühnert als SPD-Vorsitzender kandidieren, bekäme das Projekt einen ganz neuen Stellenwert. „Kevin steht voll dahinter“, sagt Klose.

Funktionieren Kollektive in allen Branchen?

Nicht nur innerhalb der Parteien, überall in der Gesellschaft stellt man sich alte Fragen: Wie viel Kollektiv brauchen wir? Wie funktioniert Gemeinsinn in einer individualisierten Gesellschaft? Eine neue Frage kommt hinzu: Bietet die digitale Revolution die Chance, den Kapitalismus durch eine gerechtere Wirtschaftsform zu ersetzen?

Der Soziologe Heinz Bude sagt: „Viele 20- bis 40-Jährigen haben erkannt, dass der Neoliberalismus eine existenzielle Lüge ist.“ Weil er die Illusion schüre, dass der Einzelne allein am stärksten sei. Bude hat kürzlich einen Essay über Solidarität verfasst und meist ein feines Gespür für politische Wetterwechsel. Was, glaubt er, kommt nun?

Wer wenig Geld hat, wird an die Peripherie verdrängt

„Die vergessene Solidarität kehrt als Monster in Form des Rechtspopulismus wieder. Die Idee, eine Schutzgemeinschaft zu bilden und füreinander einzustehen, wird von rechts besser gespielt als von links. Gegen dieses perverse Auftauchen der Solidarität braucht die Linke einen existenziellen anspruchsvollen Begriff von Solidarität.“

Bude glaubt auch: „Es gibt bei den Millennials die Fähigkeit, den Sozialismus zu denken.“ Allerdings einen, der nicht viel mit dem Klassenkampf früherer Zeiten zu tun hat. „Die kompakte Arbeitnehmergesellschaft der Nachkriegszeit hat einer Gesellschaft der empfindsamen Selbstverwirklicher Platz gemacht, die nur noch sehr lose miteinander verbunden sind. Deshalb ist Solidarität nur durch das Nadelöhr des Ichs zu gewinnen.“ Zum Beispiel mit Genossenschaften – dem freiwilligen Zusammenschluss von Einzelnen zum Kollektiv.

Tatsächlich sind Genossenschaften durchaus kraftvolle Alternativen zum – oder genauer im Kapitalismus. Der Bankensektor ist zu einem Drittel in den Händen von Genossenschaften. Sparkassen und Raiffeisenbanken und die Dachorganisation DZ-Bank haben die Finanzcrashs besser überstanden als die private Konkurrenz. Zudem existieren in Deutschland 2 Millionen Genossenschaftswohnungen. Die taz ist eine Genossenschaft. Warum gibt es dieses Modell nicht in allen Branchen?

Sven Giegold, früher Attac-Sprecher und seit Langem grüner EU-Abgeordneter, sagt: „Genossenschaften sind weniger innovativ.“ In Genossenschaften gibt es keine Unternehmer und Arbeitnehmer, keine strikte Trennung von Kapital und Arbeit. Daher schlage das Bedürfnis der Arbeitenden nach Stabilität stärker durch – und das bremse das Gewinnstreben.

Zweifel an den Grundlagen: Eigentum und Markt

Genossenschaften seien deshalb in der Geschichte „in Branchen mit hohem Innovationsbedarf fast immer von der Konkurrenz vom Markt verdrängt worden“. Ausnahmen bestätigen die Regel: Zu der spanischen Megagenossenschaft Mondragón Corporación Cooperativa, bei der 75.000 Beschäftigte arbeiten, gehören auch Maschinenbau und Automobilindustrie.

Auf dem Wohnungsmarkt könne man „genossenschaftlich effektiv wirtschaften“, sagt Giegold, weil in der Branche eben nur eine große Innovation – der Bau – anfalle. Sein Fazit: „Wenn BMW und die anderen Autokonzerne Genossenschaften wären, würden die Elektroautos der Zukunft nicht in Deutschland produziert. Privatkapitalistische Unternehmen, die um die beste Innovation ringen, plus staatliche Rahmensetzung sind das stärkere Modell.“

Vielen denken radikaler und stellen die Grundlagen des Kapitalismus infrage: Eigentum und Markt.

Fast zwei Stunden braucht man für die 100 Kilometer von Berlin nach Klein Trebbow. Der Weg führt durch Dörfer, in denen Tempolimit 30 gilt. Oft fährt man hinter Traktoren. Dann ist da ein See, hingetupft wie ein blaugrauer Fleck auf einem grünen Gemälde. Juliette Lahaine hat hier mit Markus Poland vor anderthalb Jahren eine Solidarische Landwirtschaft gegründet.

Poland hat konventionelle Landwirtschaft studiert und den kleinen Betrieb seines Vaters ausgebaut. Er hielt Rinder, Schweine, Schafe und Hühner, pachtete Land, produzierte Milch, Fleisch, Käse. Und stand dann vor der Entscheidung, vor der so viele Bauern irgendwann stehen: „Ich hätte mich spezialisieren müssen, um am Markt zu bestehen“, sagt er. „Die Vielfalt, die ich an meinem Beruf liebe, hätte ich damit verloren.“ Juliette Lahaine arbeitete anfangs als konventionelle Obstgärtnerin. „Ich habe viel gesehen, was nicht gut ist“, sagt sie und streicht sich mit etwas schmutzigen Händen die Haare aus dem Gesicht. „Viele Menschen haben den Bezug zur Natur verloren. Sie konsumieren Lebensmittel, ohne irgendetwas davon zu verstehen.“

Einmal die Woche ist Verteiltag

Poland lächelt, als hätte er gewusst, dass sie das sagen würde, und fügt hinzu: „Ich wollte nicht so ein Hippie-Ding, das ich mir unter Solidarischer Landwirtschaft vorgestellt habe.“ Manche hätten ihm abgeraten, weil sie glaubten, der Hof würde ohne einen Chef nicht laufen. Poland aber, mit einem guten Ruf und vielen Beziehungen im Dorf, hörte auf Lahaine. Heute sind beide gleichberechtigte Geschäftsführer des Vereins, mit dem sie ihre Solidarische Landwirtschaft betreiben.

Das Prinzip: Ein Ökosystem ernährt die umliegende Gemeinschaft. Bei ihnen umfasst sie 30 Kilometer. Poland und Lahaine wirtschaften in drei Zweigen: Fleisch, Molkerei und Gartenbau. Mitglieder sind mindestens ein Jahr dabei, sie zahlen einen monatlichen Beitrag und erhalten dafür einen Ernteanteil. Die „Mitbauern“, wie sie hier genannt werden, können auf dem Hof helfen und mitentscheiden, was der Verein macht. Einmal pro Woche ist Verteiltag, an dem sie ihre Ernte abholen. Das Produktionsrisiko tragen alle gemeinsam. Überschüsse gehen an Restaurants in der Umgebung.

Antikapitalistische Schweine in Klein Trebbow Foto: Frank Hormann/Nordlicht

Auf dem Weg zu den Freilandschweinen sagt Markus Poland: „Ich will, dass die Menschen ihr Essen von Anfang bis Ende in der Hand haben. Nichts wird besser, wenn es erst durch Deutschland oder halb Europa transportiert wird.“

Poland und Lahaine glauben, dass die Umwelt in kleinen Ökosystemen funktioniert, die das große Ganze stabilisieren. Regionale Kreisläufe müssten also gefördert werden, Lebensmittel gehören nicht an die Börse. Kleine und mittelständische Unternehmen oder eben Kooperativen, die ihr Umfeld versorgen und nichts mit dem Weltmarkt zu tun haben – so stellen sie sich Landwirtschaft vor.

Das Grundstück für den Ausbau des Hofs haben sie von der Kulturlandgenossenschaft bekommen. Die kauft Land aus privatwirtschaftlicher und oft spekulativer Nutzung und bringt es an Menschen, die ökologische Landwirtschaft betreiben wollen. Die Solidarische Landwirtschaft Klein Trebbow muss 360.000 Euro über Genossenschaftsanteile anwerben, noch fehlen 90.000. Trotzdem hat sie die 30 Hektar Land schon bekommen.

Kann, was in Klein Trebbow funktioniert, auch global funktionieren? Ist Biolandwirtschaft produktiv genug, um die Menschheit zu ernähren?

Homo oeconomicus oder Homo cooperativius

Eine 2017 unter anderem von der Welternährungsorganisation erstellte Studie ergab: Das kann funktionieren. Ökologische Landwirtschaft wäre 2050 durchaus in der Lage, mehr als 9 Milliarden Menschen zu ernähren. Vorausgesetzt, der Fleischkonsum würde sinken und die Flächen, die jetzt von Tieren genutzt werden, stünden frei.

Heinz Bude

„Die vergessene Solidarität kehrt als Monster wieder“

„Damit die Menschen anfangen, etwas zu verändern, müssen sie Alternativen kennenlernen“, sagt Juliette Lahaine. Alternativen wie die Solidarische Landwirtschaft.

Der Überbegriff für solche Modelle sind die sogenannten Commons. Im Deutschen gibt es keine korrekte Übersetzung, „Gemeingut“ oder „Allmende“ trift es nicht. Der Grundgedanke: Man entzieht dem Markt Boden, Arbeit, Wissen, aber auch weitere Ressourcen und schafft so ein Wirtschaften, bei dem es nicht nur um Wachstum und Effizienz geht.

In der Welt der Commons handelt nicht der Homo oeconomicus als individueller Nutzenmaximierer, sondern der Homo cooperativius, der Mensch als soziales Beziehungswesen.

Noch befinden sich die Commons im toten Winkel der öffentlichen Wahrnehmung. Wohl weil dieses Wirtschaften sehr kleinteilig und anspruchsvoll sein kann. Und weil das Konzept nicht in plakative Formeln passt. Es darf nicht mit der Sharing-Ökonomie verwechselt werden, die zwar von der Idee des Teilens inspiriert ist, aber, zumindest wenn sie kapitalistisch organisiert ist, das Gegenteil der Commons ist: Alles wird zur Ware, so wie die eigene Wohnung bei Airbnb – ein Triumph des Homo oeconomicus.

Die Grundidee der Commons ist sehr alt – und in harter Realität erprobt. Das haben die Arbeiten der Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom gezeigt, die 2009 als erste Frau den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften erhielt.

Picknick-Ökonomie

Ostrom analysierte weltweit mehr als 1.000 Beispiele gemeinschaftlicher Nutzung – in der Fischerei, bei der Bewässerung, in Wald- und Weidewirtschaft. Sie widerlegte das Vorurteil der Wirtschaftswissenschaften, dass Gemeingüter wegen der Neigung zur Übernutzung nichts taugen. Ihr Fazit: Weil die Menschen vor Ort selbst am besten wissen, was gut für sie ist, gibt es so viele funktionierende Beispiele. So existiert etwa die venezolanische Kooperative Cecosesola schon seit fast 50 Jahren – ein Netzwerk von etwa 60 Genossenschaften und Basisorganisationen mit 20.000 Mitgliedern. Sie versorgen sich und viele Großstadtbewohner*innen mit Lebensmitteln, betreiben ein Gesundheitszentrum, ein Beerdigungsinstitut und organisieren Kredite.

Schon bevor Ostrom den Nobelpreis erhielt, las die Publizistin Silke Helfrich Ostroms Schriften. Ein Foto, das Helfrichs Elternhaus zeigt, zeigt auch die Grenze zwischen BRD und DDR. Auf der DDR-Seite wuchs Helfrich auf, sie sagt: „Ich kannte immer nur die Gegensätze, Ideologie gewordene Systeme: Kapitalismus versus Sozialismus, Privateigentum versus Volkseigentum. Da muss es doch noch mehr geben, habe ich gedacht.“ Heute ist Helfrich die Commons-Theoretikerin Deutschlands, hat mehrere Bücher geschrieben und ist überzeugt: „Commons verändern uns.“ Wer selbst erfahren habe, „dass es eine Ökonomie gibt, in der nicht alles vom Geldbeutel oder der eigenen Leistungsfähigkeit abhängt“, gewinne Sicherheit.

Commons sind, global betrachtet, weder eine neue Hipster-Idee noch eine alte Hippie-Idee, sondern zentral für die Ernährung der Menschheit. Weltweit bewirtschaften bis zu 2,5 Milliarden Menschen rund 8 Milliarden Hektar Land in gemeinschaftlichen Strukturen – unabhängig von Monsanto und Nestlé. Taugen Commons auch für westliche Metropolen, für hoch arbeitsteilige und extrem produktive Gesellschaften? Oder sind sie dort, wie die Solidarische Landwirtschaft, doch nur Modellversuche, die in Nischen überlebensfähig sind?

Am Tempelhofer Ufer in Berlin-Kreuzberg führen helle Flure in das Büro von Abraham Taherivand. In einem langen Regal schmiegen sich dicke Bücher aneinander – die Encyclopædia Britannica: Die Vergangenheit des globalen Wissens schaut hier gewissermaßen in ihre eigene Zukunft. Taherivand ist Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland, einem Verein, der die deutsche Schreibommunity von Wikipedia fördert.

Abraham Taherivand, Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland Foto: Dagmar Morath

„Was die Prinzipien angeht, funktionieren wir als Commons“, sagt Taherivand. Denn Wikipedia lebt von dem kollaborativen Zusammentragen von recherchierten und überprüften Informationen, die für alle frei zugänglich sind. Auf Deutsch gibt es mehr als 2 Millionen Artikel.

Wissen wird, anders als eine Flasche Riesling oder ein Kuchen, bei Gebrauch nicht weniger. Je mehr Menschen sich an Wikipedia beteiligen, desto mehr Wissen entsteht, Fehler werden gefunden und korrigiert. Intern funktioniert Wikipedia nach einem einfachen Prinzip: Je aktiver man ist, desto mehr Rechte erhält man. Die Plattform ist, so der Anspruch, transparent. Wer will, kann exakt nachvollziehen, wie und von wem Texte geändert wurden. Dass es Konflikte gibt, gehört dazu. Commons-Expertin Silke Helfrich sagt: „Man darf sich die Commons-Welt nicht vorstellen wie ein Schlaraffenland, sondern wie ein Picknick, zu dem alle etwas beitragen.“

Kapitalismus in der Nische

Zehntausende schreiben und korrigieren Texte auf Wikipedia, ohne damit Geld oder symbolisches Kapital zu verdienen. Es steht noch nicht mal der Name des Autors über dem Text. Das Geben selbst ist der Lohn. Für den EU-Grünen Sven Giegold beweist Wikipedia deshalb die intellektuelle Beschränktheit des Neoliberalismus. Denn der könne schlicht nicht erklären, „warum Menschen etwas tun, wofür sie kein Geld bekommen, obwohl sie dies könnten“. .Als profitorientiertes Unternehmen hätte Wikipedia Schätzungen zufolge einen Jahresumsatz von 3 Milliarden Euro.

Giegold sieht auch das pragmatisch. Man könne das Beispiel Wikipedia nicht verallgemeinern. Für die digitale Infrastruktur, ein schnelles, überall zugängliches Internet, braucht man extrem viel Geld. Das sei „nur mit staatlichen Großinvestitionen oder privatkapitalistischem Anreiz“ machbar. Ein Common wie Wikipedia könne „nie leisten“.

Silke Helfrich

„Wie ein Pick­nick, zu dem alle was beitragen“

Und doch beflügeln digitale Projekte wie Wikipedia den Traum, dass es mit dem Kapitalismus bald vorbei sein könnte. Auch weil sich digitales Wissen kostenlos reproduzieren lässt, sei es ein Popsong oder ein Betriebssystem. Wo das Angebot unendlich ist, fällt der Preis auf null. Der US- Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin hat 2014 prognostiziert, dass die Zukunft deshalb den digitalen Commons gehören wird und der Kapitalismus nur in Nischen überlebt.

Denn das Internet funktioniert kapitalistisch, es hebelt Marktgesetze aber auch aus. So konkurrieren Konzerne wie Google, Amazon und Facebook nicht wie im Industriekapitalismus auf Märkten mit anderen Unternehmen – sie besitzen vielmehr Märkte. Alternativen zu Monopolen wären auch hier Genossenschaften.

In Datengenossenschaften, so die Idee, gehört die Plattform denen, die die Daten liefern – den Benutzern, uns allen. Ein Vorteil: Die Nutzer*innen können selbst kontrollieren, was mit ihren Daten passiert – und nicht bloß Häkchen bei den AGB machen.

Utopie und Dystopie sind sich ganz nah

Soziologe Heinz Bude sagt: „Der Kampf um die Daten ist die eigentliche Aufgabe eines renovierten Sozialismus.“ Es ist dringlicher, Datenmonopolisten zu entmachten als Wohnungskonzerne oder BMW.

Das neue Interesse an Kollektiven sei, so Bude, ein Lebenszeichen der Gesellschaft. „Wir sind in Deutschland gerade in einer bedrückenden endzeitlichen Stimmung. Alles geht den Bach runter, aber niemand macht etwas. So ist es nicht. Das zeigen die Commons, die Genossenschaften und das neue Denken der Solidarität.“

Wikimedia-Chef Taherivand sagt, Open Content, Open Data oder das freie Betriebssystem Linux seien Beispiele für ein anderes Wirtschaften. „Im Digitalen müssen einige Paradigmen aus dem Industriezeitalter einfach verschwinden.“ Selbst im Umgang mit Patenten ändern sich Grundprinzipien. „Jüngere Hersteller haben auch in der Autobranche längst den Schritt gewagt, ihre Patente zu veröffentlichen“, sagt Taherivand. Auch Elon Musk, Pionier für Elektroautos, hat das beim Tesla so gehandhabt. Geschadet hat es ihm nicht, zu einem antikapitalistisch wirtschaftenden Commoner hat es ihn allerdings auch nicht gemacht.

In der digitalen Ökonomie sind sich Utopie und Dystopie ganz nah: die Alternativen zum ewigen Profitstreben und eine von Konzernen regierte Überwachungsgesellschaft.

Common-Expertin Silke Helfrich sagt: „Wir können nicht zulassen, dass die produktivsten Mittel der Gegenwart, das Wissen und das Digitale, genauso in Besitz genommen werden wie früher Grund und Boden.“

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