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Viele Facetten des Sozialen

Dem gesellschaftlichen Engagement von Sozialgenossenschaften sind kaum Grenzen gesetzt. Sie setzen sich in unterschiedlichsten Projekten ein: für Kinder, Senioren, Obdachlose, Geflüchtete und Menschen mit Behinderung

Jörg Richert Foto: Christoph Soeder/dpa/picture alliance

Von Anna Löhlein

„Es fehlt an Wohnungen und Hilfe für ältere, hilfebedürftige Menschen. Wenn all das ausreichend da ist, ist die Welt ein besserer Ort“, beschreibt Hubertus Droste seinen großen Wunsch an die Gesellschaft. Um diesem Ideal aktiv ein Stück näherzukommen und nicht allein anderen die Arbeit an dessen Umsetzung zu überlassen, gründete er vor vier Jahren zusammen mit weiteren Mitstreitern die BürgerSozialGenossenschaft (BSG) Biberach eG. Ein regional agierender, mittlerweile sehr gut vernetzter und erfolgreicher Zusammenschluss von Menschen, die miteinander, füreinander tätig sind. Konkret: Von den mittlerweile rund 350 Mitgliedern setzen sich gut 70 als aktive Helfer für rund 150 Personen ein, die aufgrund ihres Alters Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags benötigen, die übrigen befinden sich quasi im Wartestand. „Durch ihre Mitgliedschaft sind die Leute Eigentümer des Unternehmens und haben dadurch einen Anspruch auf Leistungen, auch wenn sie diese jetzt noch nicht benötigen“, erläutert der ehemalige langjährige Vorstand einer Genossenschaftsbank das Prinzip. Als „Währung“ steht den Helfern neben direkter Bezahlung wahlweise ein „Zeitwertkonto“ offen, auf welchem sie heute geleistete Hilfe, wenn sie später selbst bedürftig werden, für sich selbst einlösen können – auch um eine solch langjährige Verlässlichkeit garantieren zu können, eignet sich die Rechtsform einer Genossenschaft.

Die Soziologin Marleen Thürling promoviert seit 2015 zum Phänomen der Sozialgenossenschaften, derzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin am Institut für Genossenschaftswesen. Sie beobachtet ein deutlich gesteigertes Interesse an der Rechtsform der eG seit Beginn der 2000er Jahre. Diese Tendenz führt Thürling nicht zuletzt auf die Finanzkrise und den damit einhergegangenen Vertrauensverlust in Unternehmen zurück, die rein gewinnorientiert arbeiten. „Das Besondere an Genossenschaften ist ja, dass sie sich dem Zweck verpflichten und nicht dem Profit. Mitglieder identifizieren sich mit dem Unternehmen, es ist ‚ihr‘ Unternehmen. Sie sind gleichzeitig Nutzer und Miteigentümer der Leistung, die die Genossenschaft bietet. Jedes Mitglied verfügt konkret über ein Mitbestimmungsrecht auf Grundlage des demokratischen Prinzips: Es verfügt über genau eine Stimme, unabhängig davon, wie viele Anteile gezeichnet wurden“, erläutert Thürling. Zum Aufwärtstrend an Neugründungen von Sozialgenossenschaften führt überdies eine Gesetzesnovelle von 2006, die die Gründung von Genossenschaften auch zu sozialen und kulturellen Zwecken erlaubt. Thürling: „Seither verzeichnen wir in Deutschland jährlich rund 40 Neugründungen von Genossenschaften auf diesem Gebiet.“ Sozialgenossenschaften entstanden als „Kinder der Not“ und waren anfangs Zusammenschlüsse Bedürftiger zur Selbsthilfe. Heute steht zunehmend die Möglichkeit der Partizipation und Mitgestaltung des gesellschaftlichen Umfeldes im Blickpunkt der Akteure. Einziges Manko bei der Gründung von Genossenschaften ist der hohe Kostenfaktor, der überwiegend auf ein umfassendes Prüfsystem zurückzuführen ist. Doch da Genossenschaften auf dem sozialen Sektor mehr und mehr strukturelle Lücken schließen (etwa in der Daseinsvorsorge oder Nahversorgung), werden sie zunehmend interessant für Politik und Verwaltung, Förderprogramme entstehen. Thürlings Forschung liegt ein weit gefasster Begriff der Sozialgenossenschaften zugrunde: Nicht ausschließlich die reinen Mitglieder-für-Mitglieder-Genossenschaften, sondern alle am Gemeinwesen orientierten eGs im sozialen und kulturellen Bereich fallen unter die Definition. „So ist etwa der Dorfladen oder das Schwimmbad, die durch eine Genossenschaft gegründet und betrieben oder weiterbetrieben werden, weil sie für den Markt nicht profitabel genug wären, ein Beitrag für die gesamte Dorfgemeinschaft und die Genossenschaft ist folglich eine Sozialgenossenschaft.“

Auch so kann die Arbeit eines Sozialgenossenschaftlers aussehen: Jörg Richert Vorsitzender der im Bereich Obdachlosen-, Kinder- und Jugendhilfe angesiedelten Karuna Sozialgenossenschaft mit Familiensinn eG aus Berlin, befindet sich zusammen mit einigen Mitgliedern auf einer Reise durch die USA, um sich die Arbeit örtlicher NGOs anzusehen. Die Karuna setzt einerseits auf den festen Kern ihrer knapp 100 Mitglieder, gleichzeitig aber auch auf eine lokale und globale Vernetzung aus der Genossenschaft heraus. Reichert: „Wir als Sozialgenossenschaft haben zum Ziel, die unterschiedlichsten Protagonisten an einen Tisch zu holen. Durch eine große Diversität der Akteure bündeln wir eine Bandbreite an Ressourcen und Expertisen. Dazu gehört auch das Wissen über das Leben auf der Straße, welches Betroffene mitbringen.“ So sind in den drei Jahren seit der Gründung bereits erstaunliche Projekte realisiert oder angeschoben worden. Der Hitzehilfe-Bus in Berlin, mobile Versorgungs-Kioske, ein Tiny-Houses- und Urban-Gardening-Projekt, eine Hilfe-App für Wohnungslose, die „Konferenz der Straßenkinder“.

Förderprogramme zur Gründung von Sozialgenossenschaften

Bayern: „Zukunftsinitiative Sozialgenossenschaften“ www.sozialgenossenschaften.bayern.de

Baden-Württemberg: „Gut Beraten!“ www.beteiligungsportal.baden-wuerttemberg.de

Niedersachsen: www.ms.niedersachsen.de > Themen > Senioren/Generationen > Gründung Sozialgenossenschaften

Über die Gründung einer Sozialgenossenschaft informiert die Broschüre „Miteinander – Füreinander“ der „Paritätischen BaWü“: www.paritaet-bw.de > Verband > Publikationen > Veröffentlichungen/Broschüren

Die Außenwirkung erfolgreicher Projekte sowie die Möglichkeit auch als Nichtmitglied daran zu partizipieren, zahle sich aus, so Reichert, zeige sich in Solidarität und wirke stärkend auf die Demokratie. Ein übergeordneter Zweck der Karuna zielt darauf, BürgerInnen darin zu unterstützen, in die Eigenverantwortung zu gehen. „Es geht um die Aktivierung deiner selbst. Bei der Umsetzung deiner Idee steht dir die Genossenschaft zur Seite“, so Richert. Impulse werden häufig in Form konkreter Ideen oder Notstände Betroffener hereingetragen und diskutiert. Hier spielt die Genossenschaft die Rolle eines „Ermöglichers“. Auch Thürling beschreibt die Sozialgenossenschaft als einen „Möglichkeitenraum“, in welchem BürgerInnen eine relativ große Gestaltungsfreiheit haben, da eGs nicht so sehr dem Konkurrenzdruck ausgesetzt sind. Reichert erklärt: „Häufig scheitert eine gute Idee an der Überzeugung, diese auch umsetzen zu können. In solchen Fällen ermutige ich, sich auf die Sache zu konzentrieren, nicht an das Geld zu denken, denn das findet sich.“ Mögliche Wege führten über Stiftungen, Spenden oder Invests durch finanzstärkere Mitglieder.

Beispiele dafür, welche Energie durch Prinzipien wie Mitbestimmung, Eigenverantwortung, Selbstorganisation, Partizipation und Solidarität freigesetzt werden kann, zeigen sich auch bei vielen anderen Sozialgenossenschaften.