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Dragqueens, Hausmütter und Dreckskerle: Joseph Cassara erzählt in seinem Roman „Das Haus der unfassbar Schönen“ die Geschichte des House of Xtravaganza

Szene aus dem Film „Paris Is Burning“, der auch die Szene des House of Xtravaganza porträtiert Foto: Mary Evans Picture Library/picture alliance

Von Jens Uthoff

Am Schminktisch beginnt diese Geschichte. Angel macht sich zurecht, sie rasiert sich die Beine, hat eine Kippe im Mund wie Bette Davis, die sie verehrt. Im Radio läuft Diana Ross. Es ist das Jahr 1980, Angel ist 16 Jahre alt. Sie, mit männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren und als Junge erzogen, merkt, dass sie eigentlich eine Frau ist. „Es war nicht so, dass sie sich in ihrem Jungskörper gefangen gefühlt hätte. Sie fühlte sich frei wie eine paloma, die an einem schwülen Sommerabend die Sozialbauten von Da Boogie Down umkreist“, lässt der Autor Angel denken, aber: „Wie gut es sich anfühlte, ‚sie‘ zu sagen! […] Sie bog ihr Ding weg – klebte es mit einem Stück Klebeband oben fest – und verschränkte die Beine zu einem X.“

Schon diese Eingangspassage in Joseph Cassaras Roman „Haus der unfassbar Schönen“ strotzt vor adoleszenter Energie, vor der Lust, sich zu entdecken, vor dem Wunsch, auszubrechen und aufzubrechen. Aber auch die Angst ist allgegenwärtig, denn Angel wohnt zu Hause, zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Miguel, sie stammt aus einer Latinofamilie. Und was, wenn ihre streng gläubige Mutter sie „ertappt […], auf frischer Tat, mit frisch rasierten Beinen“?

Angel, eine der Hauptfiguren, wird im Laufe der Handlung eine Ersatzfamilie finden: das im Titel anklingende „Haus der unfassbar Schönen“. Gemeint ist damit das New Yorker House of Xtravaganza, das für Cassaras Roman das reale Vorbild ist. Das House of Xtravaganza wurde 1982 vor allem von lateinamerikanischen Transsexuellen ins Leben gerufen, um einen Ort zu schaffen, an dem sie ihre Sexualität und queere Kultur ausleben konnten. Berühmt wurde es auch für seine Ballroom- und Voguing-Szene. Cassara will diesem für die LGBTI-Szene (die damals noch nicht so genannt wurde) so wichtigen Ort ein Denkmal setzen. Porträtiert wurde die Szene bereits im Film „Paris Is Burning“ (1990).

Joseph Cassara: „Das Haus der unfassbar Schönen“. Aus d. Engl. v. Stephan Kleiner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 448 S., 24 Euro

Die soziale Struktur des House of Xtravaganza gleicht tatsächlich der einer Familie, es gibt den Hausvater und die Hausmutter, die Mitglieder tragen den Nachnamen Xtravaganza. Romanfigur Angel ist der realen Person Angie Xtravaganza nachempfunden, die das Haus mit gründete und Mutter des Hauses wurde. Der kürzlich gestorbene Mitgründer Hector Crespo (Hector Xtravaganza) kommt ebenfalls mit seinem realen Namen vor, er war der Vater des Hauses. Die deutsche Übersetzung sollte zunächst auch den Titel „Das House Xtravaganza“ tragen, daraufhin beschwerten sich ehemalige Mitglieder. Es deutete sich wohl rechtlicher Ärger an. Nun ist die Übersetzung des Titels eins zu eins aus dem Englischen („The House of Impossible Beauties“). „Impossible beauties“ wurden die Transfrauen der queeren New Yorker Institution in der Szene genannt.

Cassara, US-amerikanischer Autor, Jahrgang 89, lehnt sein Debüt nah an die realen Ereignisse an. Wir bekommen das Leben der Dragqueens und Transpersonen aus unterschiedlichen personalen Erzählperspektiven geschildert, die wichtigsten Figuren der Gründergeneration tauchen auf: Hector, Angel, Venus, Daniel, Juanito Xtravaganza, Dorian (Dorian Corey). Cassara erzählt von den verbalen Auseinandersetzungen untereinander, von der Verachtung, die ihnen zu jener Zeit oft entgegenschlägt, vom Sex, von der Sexarbeit und den Blow­jobs im Auto an den Piers. Er erzählt von Bällen und Partys in Clubs, vom Koksen und vom blöden Rumlabern, von Vergewaltigungen und Demütigungen, von dem ganzen wahnsinnigen Leben eben. Und davon, wie Aids einigen Xtravaganzas genau dieses Leben nahm.

Toll ist die rasante, schnelle Sprache, die einen mitten in diese Szene hineinzieht und einem ein Gefühl dafür gibt, wie es damals gewesen sein muss. Die Übersetzung von Stephan Kleiner ist hervorzuheben, denn diesen Latino-Englisch-Straßenköter-Slang muss man erst mal ins Deutsche übertragen. Als Venus zum Beispiel an den Piers auf den Strich geht und ein Freier sie übel behandelt, erklärt ihr Angel, wie man den Männern gegenübertritt: „Wenn du zulässt, dass diese Dreckskerle so mit dir umspringen, dann werden sie es immer weiter tun – mit dir, mit mir, mit uns allen. Dann lernen sie es nie. Also erteilen wir diesem Wichser eine Lektion und bringen seinem bruto Arsch bei, was R-e-s-p-e-c-t – Aretha-mäßig! – bedeutet. So sieht’s mal aus.“ Ein solcher Stil zieht sich durch das Buch.

Ein komplettes Bild des House of Xtravaganza bekommt man nicht. Es bleiben Leerstellen, wohl auch deswegen, weil der Autor nicht mit den (überlebenden) Gründungsmitgliedern selbst sprechen konnte, sondern „nur“ mit anderen InterviewpartnerInnen. Wie etwa der Tanzstil Voguing seinen Anfang nahm – der später von Madonna in den Mainstream getragen wurde – oder wie der politische Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung aussah, wird weitestgehend ausgespart, der Roman bleibt eng am alltäglichen Leben der ProtagonistInnen. Neben Auslassungen gibt es aber auch einen fragwürdigen Umgang mit Fakten. So wird hier in der Fiktion ein HIV-Test Hectors ins Jahr 1984 verlegt, obwohl die Tests erst 1985 offen zugänglich waren. Bei einem Text, der so eindeutig Realität nacherzählt, eigentlich ein No-go.

„Impossible beauties“ wurden die Transfrauen der queeren New Yorker Institution genannt

Die Message des Buchs ist dafür umso stärker. Man kann den Roman als leidenschaftliches Plädoyer für Solidarität unter Außenseitern, für Wahlverwandtschaften lesen. In einer Schlüsselszene gegen Ende etwa gefriert einem das Blut in den Adern – kein Spoiler an dieser Stelle.

So manches Manko sieht man dem Roman nach, denn Cassara gelingt es sehr gut, den Kitt innerhalb der Ersatzfamilie Xtra­vaganza in Worte zu fassen. Greifbar zu machen, wie sie zueinanderhalten inmitten all des Elends und der Gewalt, die es zuhauf gibt. Man kommt diesen Figuren sehr nah. Manchmal näher, als man möchte.