„Sea-Watch“-Crewmitglied über Rettung: „Wir sind keine Adrenalinjunkies“

Filmemacher Till Egen war im Juni im Mittelmeer auf Mission. Ein Gespräch über die angespannte Lage an Bord, Medienaktivismus und Rechtspopulisten.

"Sea-Watch 3"-Crewmitglied Till Egen im Porträt vor der Oberbaumbrücke in Kreuzberg

Filmemacher und Crewmitglied der „Sea-Watch 3“: Till Egen lebt seit zehn Jahren in Kreuzberg Foto: André Wunstorf

taz: Herr Egen, als Filmemacher waren Sie Mitglied der Crew des zivilen Seenotrettungsschiffes „Sea-Watch 3“, das im Juni 53 in Seenot geratene Menschen im Mittelmeer rettete. Was war Ihre Rolle an Bord?

Till Egen: In erster Linie war ich für die Medienarbeit zuständig. Für eine spendenfinanzierte Organisation ist es essenziell, die Öffentlichkeit auf dem Laufenden zu halten. Deshalb habe ich täglich Bildmaterial produziert und nach Berlin geschickt, damit unser Medienteam es für sämtliche Social-Media-Kanäle nutzen konnte. Der wohl aufregendste Moment der Mission, den ich auch dokumentierte, waren die Rettung und der Erstkontakt auf hoher See mit den in Seenot geratenen Menschen. Zudem hielt ich mit der Kamera die Geschichten, die die Geretteten mitbrachten, fest. Dadurch bekam ich tiefe Einblicke in die Fluchtursachen, wie Klimawandel oder Konflikte um Ressourcen in Zentralafrika. Zum anderen lag eine Aufgabe darin, die JournalistInnen an Bord zu betreuen.

Was mussten Sie im medialen Umgang mit den Geretteten beachten?

Einige unserer Gäste, die schlimme Erfahrungen machen mussten und somit besonders traumatisiert waren, sollten beispielsweise nicht interviewt werden. Um sie zu schützen, denn das Wiedererzählen und Erinnern an traumatische Erfahrungen bringt die Gefahr von Retraumatisierungen mit sich, was die bereits sehr angespannte psychologische Situation an Bord für die Crew noch schwieriger und unkontrollierbarer hätten machen können. Viele der Menschen mussten auf ihren Fluchtrouten durch die Sahara und in Libyen unvorstellbares Leid erfahren. Die meisten verloren dabei Freunde oder Verwandte, bevor sie dann das Risiko in Kauf nahmen, mit einem Baby im Arm in dieses hochseeuntaugliche Gummiboot zu steigen, um Folter, Sklaverei und systematischer Vergewaltigung in den menschenfeindlichen libyschen Gefangenenlagern zu entkommen.

Mit „Gästen“ meinen Sie die Flüchtlinge an Bord der „Sea-Watch“?

Ja, wir, die Besatzung, sagen Gäste, weil das Wort „Flüchtling“ oder „Migrant“ automatisch einen Status generiert, der vermittelt, dass diese Menschen Mitleid brauchen. Für das Zwischenmenschliche auf engstem Raum und für eine intakte Vertrauensbasis zwischen unseren Gästen und der Besatzung ist es wichtig, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Deshalb haben wir uns auch jeden Morgen alle zusammengesetzt, um uns über die Situation an Bord auszutauschen.

Seit wann machen Sie Medienarbeit zum Thema Seenotrettung?

Ungefähr seit der Taufe des ersten „Sea-Watch“-Schiffes im Jahr 2015 im Hamburger Hafen. Als sich zu dieser Zeit die ersten zivilgesellschaftlichen Strukturen zur Seenotrettung bildeten, die dem Sterben im Mittelmeer nicht länger tatenlos zusehen wollten, begann ich mich für dieses Thema zu engagieren. Über die Besetzung der Gerhard-Hauptmann-Schule in der Oh­lauer Straße und des Oranienplatzes in Kreuzberg lernte ich zu dieser Zeit viele ehrenamtliche Netzwerke kennen. Damals unterstützte ich auch geflüchtete MusikerInnnen, indem ich beispielsweise Proberäume anmietete, Instrumente besorgte, Auftritte und Konzerte organisierte und diese auch filmisch dokumentierte. Seitdem bin ich neben meiner Tätigkeit als freier Kameramann und Dokumentarfilmer auch für weitere humanistische und antirassistische Themen und die Klimagerechtigkeitsbewegung ehrenamtlich aktiv. Ich wollte nie explizit Medienaktivist werden. Ich bin lediglich zeitgenössischen Entwicklungen und meinen Interessen gefolgt.

Was ist der Unterschied zwischen Medienaktivismus und Ihrer journalistischen Arbeit als Filmemacher?

Als ich anfing, über aktivistische Themen zu berichten, bemerkte ich schnell, dass ich es persönlich enorm wichtig finde, so unabhängig und frei, wie es nur geht, berichten zu können. Klassischer Journalismus sollte bei der Verbreitung von Informationen und Meinungen auch die Gegenseite zeigen. Die erscheint mir allerdings bei den beiden großen zeitgenössischen Themen Seenotrettung und Klimagerechtigkeit oft sehr unfundiert und rechtspopulistisch.

Also haben Sie keine Lust, sich mit Populisten herumzuschlagen?

Nein, und die Position, als Medienaktivist zu berichten, erlaubt es mir, Aktivisten und Ehrenamtliche wahrhaftig zu zeigen und nicht als kopflose Idealisten, sondern als Visionäre. Nach und nach schenkten mir Aktivisten mehr Vertrauen, weil ich als Teil der Bewegung wahrgenommen werde und sensibel dem Thema gegenüber bin – sei es an Bord der „Sea-Watch“, bei Klimaprotesten in den Kohlegruben mit der Ende-Gelände-Bewegung oder mit den Besetzern im Hambacher Forst.

Woher nehmen Sie die Motivation für Ihren ehrenamtlichen Einsatz an Bord des Schiffes und als Medienaktivist?

Als kleiner Junge bemerkte ich, dass meine Oma bei bestimmtem Wetter immer eine knallrote Nase bekam, weil sie, wie sie mir später erzählte, auf der Flucht schwere Erfrierungen erlitt. In Folge des Zweiten Weltkrieges musste sie als siebenjähriges Mädchen mit ihrer Mutter und Schwester im Winter zu Fuß durch Eis und Schnee aus Schlesien flüchten. Für mich war das unvorstellbar, wie Menschen in Not solch eine traumatisierende Flucht auf sich nehmen müssen, ohne dass ihnen adäquat geholfen wird. Das Grauen, was Frauen und Kinder auf der Flucht durchmachen müssen – wurde mir an Bord der „Sea-Watch“ erneut vor Augen geführt –, es ist häufig überproportional schlimmer als das, was Männer erleben müssen. Das erklärt auch, warum es mehr männliche Flüchtlinge nach Deutschland schaffen als weibliche.

An Bord eines Schiffes muss man sich den Problemen stellen. Man kann nicht ausweichen

Und daher kommt Ihre Überzeugung, helfen zu wollen?

Ja. Viele Menschen, die flüchten, schaffen es leider nicht durch die Sahara und die libysche Hölle. Wir hier in Deutschland haben heute das Glück, in Sicherheit aufzuwachsen. Ich wurde in einem weltoffenen Umfeld groß, in meiner Kindheit reisten wir viel. Beim Reisen bin ich übrigens häufig über mein Backgammon-Spiel mit Menschen in Kontakt gekommen. Das trage ich immer gut sichtbar außen an meinem Rucksack mit mir.

Hatten Sie ein Backgammon-Spiel auch an Bord der „Sea-Watch 3“ dabei?

Logo, so wie immer, wenn ich das Haus für mehr als drei Tage verlasse. Das Spiel ist für mich eine Art Eisbrecher, um auf meinen Reisen mit Menschen Sprach- und Kontaktbarrieren zu überbrücken. Auch an Bord kam das Backgammon-Spiel gut an, einigen habe ich die Regeln beigebracht. Wir spielten häufig in den Abendstunden kleine Turniere und Kartenspiele. Das waren unfassbar schöne Momente, die uns durch die häufig sehr harte Zeit an Bord brachten und uns dabei halfen, möglichst positiv zu bleiben und das Beste aus der sehr angespannten Situation zu machen. Mein Backgammon schenkte ich Hermann von der Elfenbeinküste, meinem ausdauerndsten Spielpartner und vehementesten Kontrahenten.

Nach der Rettung Mitte Juni sind Sie mehr als zwei Wochen mit der „Sea-Watch“ vor Lampedusa hin und her gekreuzt, weil Sie nicht in italienische Hoheitsgewässer fahren durften …

… das waren 16 extrem lange Tage auf engstem Raum an Bord. Die Lage auf dem Schiff war gegen Ende so dermaßen angespannt, dass wir entscheiden mussten, trotz Verbot anzulegen. 13 der 53 Gästen mussten aus medizinischen Gründen evakuiert werden. Einige der Gäste drohten damit, von Bord zu springen. Die Verzweiflung unter den teils schwerst traumatisierten Menschen war extrem und für die übermüdeten Crew zunehmend unkontrollierbar. Dann auch nicht endlich sicher anlegen zu dürfen – das war kaum auszuhalten.

Wie wirkte sich die angespannte Lage an Bord auf die Crew aus?

Wir mussten die Ungeduld der Menschen abfangen und ihnen die Angst nehmen, dass sie wieder in Libyen landen könnten. Das war eine schwierige Aufgabe. Wir haben viel Zeit in Gruppenaktivitäten gesteckt. Ich habe beispielsweise Deutschkurse gegeben, um die Ungewissheit über die Zukunft erträglicher zu machen. Unsere Crew bestand aus 22 unterschiedlichen Menschen und Meinungen.

Wie äußerte sich das?

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit Ihrer Familie oder Freunden zwei Wochen bei Dauerregen in einem Ferienhaus. Selbst in einer Urlaubssituation wie dieser entstehen häufig soziale Differenzen. Unser kleinster gemeinsame Nenner war: Es dürfen keine Menschen ertrinken – ein simpler und pragmatischer Gedanke, der uns als Crew zusammenschweißte. Auch das Gefühl, von der EU im Stich gelassen zu werden und diese enorme Verantwortung für unsere Gäste ehrenamtlich zu tragen, hat uns geeint. Die europaweite zivilgesellschaftliche Unterstützung, wie das Engagement der Seebrücken-Bewegung, hat uns immer wieder aufgebaut. Wenn es einem Crew-Mitglied mal zu viel wurde, haben wir versucht, uns gegenseitig zu entlasten.

Würfel in einer Hand vor einem Backgammon-Spielbrett

Ein steter Begleiter auf seinen Reisen: das Backgammon-Spiel Foto: André Wunstorf

Wie haben Sie das gemacht, gab es eine Art psychologische Betreuung?

An Bord eines Schiffs muss man sich allen Problemen stellen. Man kann nicht ausweichen. Wir hatten ein Buddy-System, sodass jede Person einen „Kumpel“, also Begleiter, hatte, das half dabei, dass es die Crew schaffte, sehr fürsorglich aufeinander zu achten. Wenn es einem Crew-Mitglied zu viel wurde, haben wir zum Beispiel den Schichtdienst hin- und hergeschoben, damit niemand zu wenig Schlaf bekam. Vor dem Einsatz hatten wir ein Gespräch mit einem psychologisch geschulten Team, um uns für mögliche Stresssituation zu wappnen. Zum Glück mussten wir keine Toten bergen, das hätte die Lage sicherlich verschärft. Keiner von uns macht das zum Spaß, wir sind keine Adrenalinjunkies. Manche ­Crew-Mitglieder opferten ihren ­Jahresurlaub, um ehrenamtlich dabei zu sein.

Wie finanzieren Sie Ihre ehrenamtliche Arbeit?

Als freier Kameramann drehe ich Auftragsarbeiten für Dokumentationen, Kurzfilme und Kunstprojekte, aber auch leider ab und zu Werbung. Damit finanziere ich mich und mein ehrenamtliches Engagement.

Klappt das immer, die Waage zwischen Aktivismus und Geldverdienen zu halten?

Unterm Strich schon. Ich versuche, das voneinander zu trennen. Diesen Trend, sich als Journalist sehr persönlich via Twitter und Co. selbstdarstellerisch zu inszenieren, versuche ich, so gut es geht, zu vermeiden.

Der Mensch: 35, ist in Kassel aufgewachsen, wo er schon während der frühen Schulzeit Freunde beim Rappen filmte. Sein Leben lang viel am Reisen, studierte Egen Kameratechnik in Südafrika – nicht nur wegen der alten Filmkameras, sondern auch wegen der verlassenen Surfspots. Nach einer langen Asienreise landete er in Australien, um in Open-Air-Kinos und auf Filmfestivals zu arbeiten. Seit zehn Jahren lebt Egen in Kreuzberg.

Der Filmemache: Egen arbeitet gern in Koopera­tion, so wie mit dem Gefängnistheater aufBruch und dem Regisseur Adrian Figueroa. Die Leidenschaft, mit seiner Arbeit auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen und über Fakten hinaus zeigen zu wollen, was Menschen antreibt, brachten ihn nicht nur zu seiner journalistischen Arbeit als Dokumentarfilmer, sondern auch zum Medienaktivismus.

SDas Projekt: ea-Watch ist ein gemeinnütziger Verein, der 2015 von Privatpersonen in Berlin gegründet wurde, um Menschen, die im Mittelmeer in Seenot geraten, zu retten. Sea-Watch fordert, dass die Seenotrettung nicht nur ehrenamtlich von zivilen Organisationen, sondern auch von staatlichen europäischen Institutionen geleistet wird, und setzt sich für legale und sichere Fluchtwege ein. (sos)

Wollen Sie der Öffentlichkeit nicht mitteilen, was Sie journalistisch erarbeiten?

Doch, aber ich will nicht ständig allen zeigen müssen: „Schau mal, das ist meine Meinung.“ Deshalb arbeite ich als Kameramann auch beispielsweise ohne Sprechtext.

Sie möchten also das, was sie als Dokumentarfilmer aufnehmen, nicht mit einer Sprecherstimme überspielen oder kommentieren?

Genau. Ich versuche, das, was tatsächlich passiert, festzuhalten. Damit die Meinungen, Beweggründe und Geschichten der Menschen, die ich dokumentiere, Gehör finden – und nicht nur nackte Fakten.

Wie sind Sie zum Film gekommen?

Wir hatten zu Hause keinen Fernseher. Und wie das so ist: Wenn du einem Kind etwas vorenthältst, hat es darauf ganz besonders Bock – Fernsehen und Film war eine Art verbotener Apfel für mich. Ich war super neugierig. Ich wollte Dinge sehen und festhalten. Zusammenkommen und gemeinsam auf eine Leinwand zu schauen hat mir schon als Kind gefallen, wenn wir Dia-Show-Abende mit Fotos aus dem Urlaub machten. Irgendwann haben meine Eltern glücklicherweise die Situation gelesen und mir meine erste Kamera geschenkt.

Und nach der Schulzeit haben Sie Film studiert?

Ja, Kameratechnik in Kapstadt – noch mit schönen, alten, rappeligen Filmkameras. Danach bin ich nach Australien und habe kurz irgendwas mit Wirtschaft studiert, aber vor allem auf Filmfestivals gearbeitet. Bevor ich dann vor zehn Jahren zurück nach Deutschland gekommen bin.

Und seitdem leben Sie in Berlin?

Ja, ich arbeite hier als freier Kameramann. So gern ich reise und für Dokumentationen unterwegs bin – so gern chille ich auch hier in Kreuzberg.

Ursprünglich kommen Sie aus Kassel.

Genau. Dass dort der CDU-Politiker Walter Lübcke aus mutmaßlich rechtsextremen Motiven für seine klare Positionierung zu Flucht und Migration ermordet wurde, erschüttert mich.

Haben Sie schon mal Morddrohungen erhalten?

Leider ja, ein paar Mal schriftlich; mit menschenfeindlichem Jargon, gespickt mit vielen Rechtschreibfehlern. Zudem auch einige Bedrohungen und irre Hasskommentare online.

Unser kleinster gemeinsame Nenner war: Es dürfen keine Menschen ertrinken – ein simpler und pragmatischer Gedanke, der uns als Crew zusammenschweißte

Macht Ihnen das Angst?

Ich rede mir ein, keine Angst zu haben, weil Angst genau das ist, was eben diese verwirrten Menschenfeinde antreibt: Angst vor Fremde, Verlusten, Veränderungen. An sich bin ich eher enttäuscht von staatlichen Institutionen, die viel zu wenig gegen diese Rechten tun, während die zivile Seenotrettung kriminalisiert wird. Um es in den treffenden Worten von Dariush Beigui, dem ehemaligen Kapitän der „Iuventa“, zu sagen: „Ich bin lieber ein kriminalisierter Retter als ein legaler Mörder.“

Was ist ein „legaler Mörder“?

Wir, als europäische Staatengemeinschaft, lassen Menschen ertrinken. Andere mögen es unterlassene Hilfeleistung nennen, aber es ist eine aktive Entscheidung. Wir lassen zu, dass die sogenannte libysche Küstenwache Menschen im Auftrag von Europa völkerrechtlich zurück in die dortigen Folterlager schleppt, wo ihr Leben nichts wert ist. Das ist eine Schande.

Für das Interview sitzen wir in Ihrem Kiez in Kreuzberg. Wie geht es Ihnen damit, wieder zu Hause zu sein?

(überlegt lange) Es hat einen surrealen Beigeschmack. Von den Leuten, die wir hier auf der Straße sehen, sind die meisten mit unheimlichen Privilegien aufgewachsen, vielen geht es fast zu gut. Da stellt sich mir mal wieder die gute alte Umverteilungsfrage. Auf meinen Reisen habe ich viele Menschen gesehen, denen es nicht so gut geht, aber der Einsatz auf der „Sea-Watch“ hat mir noch mal gezeigt, was es bringen kann, wenn man den Arsch hochbekommt.

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