Die Welt
ist so jung
wie am
ersten Tag

Von Herman Melville sind nun Kritiken und Essays teilweise erstmals auf Deutsch erschienen: Plädoyer, sich reisend, lesend und schreibend den Kopf zu lüften und Denkkonventionen zu überwinden

Bloß keine „Salzwasserpoesie“ schreiben. Das riet Melville, Autor des „Moby Dick“, seinen Autorenkollegen Foto: Everett Collection/picture alliance

Von Sabine Peters

Das Meer toste, der weiße Wal tobte, Harpunen flogen. Am Ende blieben Trümmer, Tote und das Meer. Herman Melvilles Roman „Moby Dick“ gehört längst zum kulturellen Gedächtnis, einschließlich diverser Kinderbuchfassungen, Verfilmungen und anderer medialen Bearbeitungen. Unvergesslich auch die Erzählung „Bartleby“, dessen Held sich mit dem Satz „Ich möchte lieber nicht“ zunächst der Büroarbeit entzog und schließlich das Dasein überhaupt verweigerte.

Melville (1819–1891) kam aus einer verarmten Kaufmannsfamilie, fuhr früh als Matrose zur See und wurde Schriftsteller mit mäßigem Erfolg. Nachdem sein „Moby Dick“ beim Publikum scheiterte, arbeitete er fast zwanzig Jahre als Zollinspektor. Auch in seiner aktiven Zeit als Autor konnte Melville nie von seinen Büchern leben; also hielt er Vorträge und schrieb Essays und Buchbesprechungen für die Zeitschrift Literary World. In diesen Texten, die teilweise jetzt erstmals auf Deutsch erscheinen, denkt er über seine Leidenschaften nach: Walfang, Reisen zu Wasser und zu Lande, Kunst und Literatur.

Der etwas pathetische Titel der Textsammlung, „Die große Kunst, die Wahrheit zu sagen“, sollte einen nicht abschrecken: Melville schreibt konkret und ist dabei witzig, ironisch, skeptisch.

Also: Zeitgenössische Schriftsteller sollen kein Seemannsgarn spinnen, keine „Salzwasserpoesie“ schreiben. Warum behauptet ein Romancier, er hätte Wale brüllen hören? Lüge! Das hätte schon der alttestamentliche Prophet Jonas bezeugen können, der immerhin im Bauch eines solchen Monsters saß. Und was ist von einem Buch zu halten, das die Missstände an Bord, die Not der Matrosen verschweigt? Nun, der Autor war ein Kapitän, der eben die Interessen seiner eigenen Klasse im Auge hat.

Herman Melville: „Die große Kunst, die Wahrheit zu sagen“. Aus dem Amerikanischen von Alexander Pechmann. Erweiterte Ausgabe. Jung und Jung, Salzburg 2019. 184 Seiten, 22 Euro

Melville ist als Kritiker gerecht; das heißt, er fordert vom Esel keine Kuckuckslieder. Er lobt an einem saftigen Unterhaltungsroman über eine Reise durch die Wildnis, das Buch habe den Geschmack von Wildbret. Einmal verweigert er eine Buchbesprechung – er weiß, wie verletzend öffentliche Verrisse sind. Aber in seiner privaten Absage an den Zeitungsverleger macht er sich Luft: „Feder und Tinte sollten diesem unglücklichen Menschen sofort entzogen werden.“ Als Leser interessieren ihn vor allem die Autoren, die den Mut haben, sich „in die Finsternis hineinzuschreiben“. Diesen Mut bewundert Melville bei Nathaniel Hawthorne, der heute mit ihm und Edgar Allan Poe zur „dunklen“ amerikanischen Romantik gezählt wird – alle drei Autoren zweifelten an der Möglichkeit, Welt und Wirklichkeit ungebrochen zu erkennen.

Der Essayist Melville klebt nicht an seinen Gegenständen; er schreibt assoziativ und freigeistig. Einmal hält er einen Vortrag über antike Statuen in Rom – das war kein exzentrisches Thema, denn die fortschrittsgläubigen Amerikaner sahen sich ganz gern als die Erben römischer Tugend und Pracht. Angesichts der zahllosen Eindrücke antiker Kunst unterscheidet Melville sehr genau, wo der Verstand von der Schönheit einer Skulptur „hervorgelockt“ wird und wo er von architektonischer Größe „mitgerissen“ wird.

Die Texte werden zu dem Plädoyer, sich reisend, lesend und schreibend den Kopf zu lüften, allerhand Denkkonventionen zu überwinden, neugierig zu sein: „Die Welt ist heute so jung wie an dem Tag, da sie erschaffen wurde, und der Morgentau von Vermont ist für meine Füße genauso feucht wie der Tau Edens für Adams Füße. Auch wurde die Natur von unseren Vorfahren nicht dermaßen geplündert, dass für die nachfolgende Generation nichts an Zauber und Mysterium zu entdecken bliebe. Weit gefehlt: noch nicht einmal der billionste Teil ist gesagt, und alles, was bisher gesagt wurde, vervielfacht die Möglichkeiten dessen, was zu sagen bleibt.“

Die Dominanz

der Weißen

über den Rest

der Welt stieß Herman Melville ab

Spricht hier ein naiver Optimist aus einer vergleichsweise unschuldigen Epoche, der das Wort Anthropozän eben noch nicht kennen konnte? Natürlich war Melville Kind seiner Zeit. Aber im Unterschied zu vielen anderen Schriftstellern und Reisenden seiner Generation entwickelte er eine zivilisationskritische Haltung. Technische Fortschritte interessierten ihn, er leitete daraus aber keine Überlegenheitsphantas­men ab. Die Dominanz der Weißen über den Rest der Welt stieß ihn ab. Er hatte auf seinen Südsee-Reisen erlebt, welche Finsternis die „zivilisierten Christenmenschen“ über sogenannte Wilde brachten. Aber mit dieser Wahrheit, schrieb er bitter an den Freund Hawthorne, brächte man es als Autor höchstens in die Armenküche.

Melvilles „Wahrheitssuche“ zeigt sich auch in seinen Experimenten mit neuen literarischen Ausdrucksformen; in einigen Texten mischt er Lyrik und Prosa. Sein Ideal war eine Literatur, die keine Kompromisse eingeht, sondern das Risiko sucht.

Ein lebhaftes, genießerisch geschriebenes Buch, das einen Einblick in Melvilles Menschenbild und seine Poetologie gibt. Und der einladende Gestus, den Horizont der Wahrnehmung zu öffnen, macht Freude.