Mut zum Klischee-Tourismus: Rollkoffer sind geil

Schön über's Kopfsteinpflaster rattern: In Städten ist es eh laut, da stört das nicht. Und auf Backpacker-Nackenschmerzen kann ich verzichten.

Passanten gehen vor dem Denkmal für König Vittorio Emanuele II. in Rom über Kopfsteinpflaster.

Krrrrrrrrrr: Dieses schöne Kopfsteinpflaster in Rom wartet doch nur darauf, bearbeitet zu werden Foto: dpa

Es war im letzten Sommer. Wir kamen gerade aus dem Urlaub zurück und bogen in unsere Straße ein, mit Sand in den Schuhen und Salz in den Haaren, als uns eine Männerstimme aus einem der oberen Stockwerke jäh zurück in die Gegenwart katapultierte: „Scheiß-Touristen!“

Mein Freund behauptet, der Mann habe „Scheiß-Rollkoffer!“ gerufen, aber eigentlich ist es auch egal, denn die beiden Wörter sind seit Jahren so eng miteinander verbunden, dass es ein Wunder ist, dass sie im Duden noch nicht als Synonym aufgeführt werden.

Der Rollkoffer ist das Hassobjekt deutscher Großstädter. Er hat die Sphären seiner ursprünglichen Bedeutung eines Transporthilfsmittels längst verlassen, er ziert Titelseiten zur Ausbeutung Beschäftigter in der Tourismusindustrie und Berliner Hauswände („No more Rollkoffer!“), er ist Symbol für billige Fluglinien, elitäres Businessgehabe und eben vor allem: für nervige Touristen.

Ja, Touristen nerven.

Touristen sind immer besoffen, Touristen stehen links auf der Rolltreppe oder mit einer Faltkarte mitten auf dem Gehweg, Touristen blockieren mit Segways die Fahrradspur, Touristen betrinken sich auf Bierbikes, Touristen haben nachts Angst in der U-Bahn, Touristen tragen Funktionskleidung, Selfiesticks und das Smartphone an einer Kordel um den Hals, und sie rattern mit Rollkoffern frühmorgens über Kopfsteinpflaster, um ihren Flieger zu erreichen.

Einerseits.

Andererseits sind wir alle Touristen, jedenfalls von Zeit zu Zeit. Und wenn wir in einer fremden Stadt trotzdem freundlich behandelt werden, vielleicht sogar ungefragt Hilfe angeboten bekommen, weil wir planlos in der Gegend stehen, dann schwärmen wir später von der Gastfreundschaft und der Wärme in diesem Land. Daran könnte man sich durchaus ein Beispiel nehmen, wäre man nicht so stolz auf die eigene Arroganz und hätte die Stadt am liebsten für sich allein.

Und was die tatsächlich unselige Kombination von Rollkoffern und Kopfsteinpflaster betrifft: Lärm gehört zu einer Großstadt nun mal dazu, ob man will oder nicht. Dazu muss man nicht in der Einflugschneise wohnen oder einen Schrebergarten neben den Bahnschienen haben, es reicht eine ganz normale Wohnung in einem Mehrfamilienhaus, vor allem im Sommer bei geöffneten Fenstern.

Je nachdem, ob man zur Straße hin oder im Seitenflügel wohnt, hört man die unterschiedlichsten Dinge – im Hof hat man mehr von den Nachbarn, vorne mehr von der Straße, aber ruhig ist es so gut wie nie.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Da ist der Dreijährige, der „Lüü-lüü-lüü“ rufend zwei Stunden auf seinem Dreirad um den Sandkasten fährt. Die Nachbarin, die morgens um 6 eine einzelne Weinflasche in den Altglascontainer wirft. Der Junkie, der laut pöbelnd durch die Straßen zieht. Der Hund, der jeden Tag eine Stunde lang bellt und jault, weil seine Besitzer ohne ihn das Haus verlassen haben.

Die Nachbarin, die von morgens bis abends pfeift. Der Müllmann, der mit klapperndem Schlüsselbund jede Eingangstür der Straße aufsperrt. Das Pärchen, das regelmäßig um 3 Uhr nachts sehr ausführlich Sex hat. Und der Vater, der seinem Kind durch die Wohnung zuruft: „Ich kann jetzt nicht, ich sitze auf dem Klo!“

Mit einem Wanderrucksack verrenkt man sich den Nacken

Irgendwoher ist es immer laut in der Stadt, und oft ist das schön und lustig und schult in Toleranz. Und manchmal nervt es kolossal. Aber das Rattern der Rollkofferräder transportiert wenigstens nicht nur Straßendreck, sondern auch einen Moment der Verheißung – auf den nächsten Urlaub, den nächsten Besuch der Fernbeziehung oder zumindest das nächste Feierabendbier. Mal abgesehen davon gibt es zu dem Rollkoffer keine vernünftige Alternative.

Vor ein paar Jahren habe ich mir eine Reisetasche zugelegt, ein edles Teil aus braunem Leder, und sah mich schon wehenden Haares aufregende Wochenendtrips in fremde Städte unternehmen. In der Realität verursacht das wechselseitige Tragen einer Reisetasche, die mit Kleidern, Kosmetikbeutel, Büchern und Laptop gefüllt ist, im besten Fall einen Muskelkater, im schlimmsten Fall eine Sehnenscheidenentzündung.

Und den verrenkten Nacken, nachdem ich als Jugendliche eine Woche in Südfrankreich zelten war, habe ich dem Backpackerrucksack bis heute nicht verziehen.

Regt euch über andere Dinge auf

Der Rollkoffer hingegen ist wahnsinnig praktisch: Er spart Kraft, Arztkosten und Nerven. Wird es unterwegs zu warm, hängt man den Mantel über den Ausziehgriff und hat immer noch eine Hand frei. Auf dem aufrecht stehenden Koffer ist Platz genug für Rucksack oder Handtasche (oder die Tüte mit dem Reiseproviant), sodass man beim Warten nicht in Verlegenheit kommt, irgendetwas auf den Boden legen zu müssen.

Oder man setzt sich einfach selbst obendrauf, wenn der Zug Verspätung hat.

Und außerdem: Wir fahren Auto, Fahrrad, Skateboard und E-Roller, aber der Koffer darf um Himmels willen den Boden nicht berühren?

Anstatt Rollkoffer zu verteufeln, könnte man seinen Hass auch auf jene richten, die es verdienen: Menschen, die ihren Müll auf der Wiese im Park liegen lassen, obwohl genügend Mülleimer vorhanden sind. Taxifahrer, die viel zu schnell durch Fahrradstraßen rasen. Oder Passanten, die im Gehen mal eben den Kopf zur Seite drehen und auf die Straße kotzen.

Und man könnte sich freuen, dass trotz alledem immer noch Leute Lust haben, die Stadt zu besuchen. Ja, genau – die bösen Touristen.

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Jahrgang 1984, Redakteurin der taz am wochenende. Bücher: „Rattatatam, mein Herz – Vom Leben mit der Angst“ (2018, KiWi). „Theo weiß, was er will“ (2016, Carlsen). „Müslimädchen – Mein Trauma vom gesunden Leben“ (2013, Lübbe).

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