„Viele Betroffene sehen den Rassismus als fast normal an“

Rassistisch motivierte Angriffe wie die Attacke auf vier Afghanen in der vergangenen Woche im Schnoor sind in Bremen zwar nicht an der Tagesordnung, Diskriminierung und Bedrohungen allerdings schon, sagt Josef Borchardt von der Beratungsstelle „soliport“

Das Thema rechte Gewalt ist seit dem Mord an Walter Lübcke in aller Munde, aber keineswegs ein neues Phänomen Foto: Christoph Soeder/dpa

InterviewLotta Drügemöller

taz: Herr Borchardt, vergangene Woche wurden vier junge Afghanen im Schnoor angegriffen. Ist das eine Ausnahme?

Josef Borchardt: In Deutschland gibt es täglich drei bis vier rassistisch motivierte Gewalttaten. In Bremen sind krassere Angriffe zum Glück nicht alltäglich. Allerdings melden sich auch nicht alle Opfer von Gewalt bei uns oder der Polizei. Wie groß die Dunkelziffer ist, wissen wir daher nicht. Alltäglich ist auf jeden Fall auch hier die Ausgrenzungserfahrung.

Wer ist besonders betroffen?

Es ist ganz verschieden, wie sich die rassistische Perspektive Menschen vorstellt, die vermeintlich nicht zu Deutschland gehören. Das können schwarze Menschen sein – ob die dann in Deutschland geboren sind, spielt keine Rolle, der erste Impuls bei so einem Angriff wird eben durch die rassistische Motivation ausgelöst. Es kann aber auch eine weiße Person sein, die zum Beispiel mit Akzent telefoniert.

Und wo und wann sind Menschen, die als „fremd“ gelesen werden, besonders bedroht?

Täter schlagen in sehr unterschiedlichen Situationen zu. Wir beschreiben rechte Gewalt auf der Täterseite als Vorsatz bei Gelegenheit: Die Angreifer tragen das Potenzial und die Motivation für Angriffe immer bei sich. Es braucht keine Aktion von den Betroffenen, auf die dann reagiert wird. Es braucht lediglich eine Gelegenheit, den eigenen Ressentiments freien Lauf zu lassen oder sie in Gewalt münden zu lassen. Menschen werden in der Schule, im Supermarkt, im Beruf, im Hausflur herabgewürdigt. Es ist eher schwierig, die Orte auszumachen, an denen sowas nicht passiert.

Auf Ihrer Twitterseite heißt es: „Blicke. Worte. Fäuste. Rechte Gewalt hat viele Facetten.“ Mit was für Facetten kommen die Leute zu Ihnen in die Beratung?

Es kommen Menschen zu uns, die physische Gewalt im engeren Sinn erlebt haben, so etwas wie Schläge oder Tritte. In der Mehrzahl sind es aber tatsächlich Leute, die von Bedrohungen, Herabwürdigung, Diskriminierung betroffen sind. Blicke sind ein Teil davon, aber meistens geht es schon um etwas Einschneidenderes. Interessant ist, dass der Anlass oft gar nicht das Relevanteste ist.

Wie meinen Sie das?

Wenn die Leute bei uns sind und anfangen zu erzählen, ist das eine ganze Geschichte, die sich über eine lange Zeit zieht. Viele Betroffene sehen den Rassismus als fast normal an, als alltäglich. Doch wenn die Psyche die kleinen Nadelstiche einfach nicht mehr aushält, kann es irgendwann zum physischen Zusammenbruch kommen. Manchmal sind Auslöser ganz banale Sachen, die mit den Erfahrungen erst mal gar nichts zu tun haben: Stress mit dem Partner oder der Partnerin, oder im Arbeitskontext. Die anderen Sachen kommen dann wieder hervor.

Warum denken die Menschen dann an Sie? Da könnte man doch eher zur Partnerberatung gehen oder zum Betriebsrat …

Ich vermute, die Menschen verstehen sehr genau, dass es nicht wirklich um den Streit mit dem Partner geht, sondern um die diskriminierenden Erfahrungen. Menschen, die tagtäglich Rassismus erfahren, werden über die Jahre sensibilisiert dafür. Die verstehen ganz genau, was das mit ihnen macht.

Sind eher Männer oder eher Frauen von rassistischer Gewalt betroffen?

Bei den tätlichen Übergriffen sind es schon immer wieder junge Männer, die angegriffen werden. Bei allen anderen Formen der Gewalt sind alle betroffen, Kinder, Jugendliche, Erwachsene, alte Menschen, sowohl Männer als auch Frauen.

Josef Borchardt, 31, ist Berater und Bildungsreferent bei der Bremer Beratungsstelle „soliport“ für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.

Wie reagiert die Polizei, wenn solche Fälle angezeigt werden?

Manche Menschen berichten natürlich von kompetenten BeamtInnen, die ihre Angaben aufnehmen und gut wiedergeben. Viele berichten aber auch von PolizistInnen, die sie nicht ernst nehmen, nicht zuhören, und die Berichte der Betroffenen auch nicht korrekt aufnehmen. Da wird ganz schnell aus einer rassistischen Bedrohung eine einfache Beleidigung. Es kommt auch vor, dass Anzeigen gar nicht aufgenommen werden. Deshalb empfehlen wir, in Begleitung zur Polizei zu gehen. Das ist auch ein Service, den die Beratungsstelle anbietet.

In dem Fall aus der letzten Woche hat die Polizei klar gesagt, dass ausländerfeindliche Motive geprüft werden …

Dass die Polizei hier so schnell reagiert hat, liegt, glaube ich, im Vorfall begründet. Die rassistischen Sprüche fielen immer noch, als die Polizei schon anwesend war, das war eindeutig. Ich wage mal ein Gedankenexperiment: Hätte sich der Bericht ausschließlich auf die Aussagen der Angegriffenen gestützt, wäre ich mir nicht sicher, dass die Polizeimeldung so ausgesehen hätte. Sie merken vermutlich eine gewisse Skepsis. Die kommt nicht von ungefähr, sondern ist Konsequenz der zahlreichen Erlebnisse, die immer wieder bei uns geschildert werden. Rechte Gewalt wird oft immer noch nicht korrekt eingeordnet und dadurch auch entpolitisiert.

Was braucht es denn jetzt?

Auch auf die Gefahr hin, ein bisschen floskelhaft zu klingen: eine deutliche und sichtbare, breite Solidarität mit den Angegriffenen. Das fängt an, dabei in solchen Situationen couragiert einzugreifen, die Polizei zu rufen, da zu sein. Das geht aber auch damit weiter, im sozialen Umfeld für die Nachsorge einzutreten, damit Betroffene nicht alleine bleiben. Insgesamt gilt es, hinzuschauen, immer: Vorfälle, die jeden Tag passieren, bekommen jetzt nach dem Mordfall an Walter Lübcke verständlicherweise mehr Aufmerksamkeit. Aber rechte Gewalt bis hin zu Todesfällen ist seit Jahrzehnten in Deutschland eine Realität.