Interview Bürgermeisterwahl in Istanbul: „In die Politik kommt Bewegung“

Für die Politikwissenschaftlerin Aysuda Kölemen zeigt das Wahlergebnis von Istanbul, dass viele Türken die Spaltung und Polarisierung leid sind.

„Das Ergebnis hat Chancen geöffnet und Hoffnung geschaffen“, sagt Aysuda Kölemen Foto: dpa

taz gazete: Frau Kölemen, der Vorsprung des sozialdemokratischen CHP-Kandidaten Ekrem İmamoğlu ist im Vergleich zur annullierten Vorwahl am 31. März auf beinahe 800.000 angewachsen. Woher kommen diese Stimmen?

Aysuda Kölemen: Es gab eine Wählerwanderung von der konservativen AKP und der rechten MHP. Nach dem 31. März versuchte der jetzige Sieger İmamoğlu, vor allem jene Wähler*innen anzusprechen, die ihn nicht gewählt hatten, weniger seine eigene Anhängerschaft. Er klapperte die Viertel ab, die nicht für ihn gestimmt hatten, und sagte: „Ich achte euren Glauben. Dass ihr die AKP wählt, macht euch nicht zu meinen Feinden.“ Er positionierte sich also gegen die von Erdoğan angewendete Taktik, andere zu Gegnern zu erklären. Er sah, wie satt die Menschen das hatten. Manchmal kann der Diskurs eines Kandidaten genau die emotionalen Bedürfnisse des Landes treffen.

Was für Bedürfnisse meinen Sie?

İmamoğlu wurde nach den Wahlen vom 31. März Unrecht angetan. Die Wahl, die er gewonnen hatte, wurde annulliert. Er sagte: „Mir wurde Unrecht getan, aber ich überwinde das.“ Alle in der Türkei glauben derzeit, dass ihnen Unrecht angetan wird. Dieses emotionale Bedürfnis konnte İmamoğlu ansprechen. Das war genau das, was die Menschen brauchten. Ich denke, auch die konservative Wählerschaft ist die seit Jahren bemühte Rhetorik der Spaltung und Polarisierung leid. Es erstaunt nicht, dass auch Wähler*innen von AKP und MHP sich seinem Diskurs nahe fühlten.

Recep Tayyip Erdoğan akzeptierte das Ergebnis überraschend schnell und gratulierte Ekrem İmamoğlu. Hatte er das Ergebnis erwartet?

Zweifellos. Deshalb unternahm die AKP ja in der letzten Woche verzweifelte aggressive und widersprüchliche Vorstöße. Ihnen war durchaus bewusst, wohin die Sache führen würde. Bei einem Unterschied von 800.000 Stimmen hat es keinen Sinn mehr zu streiten. Da ist das Beste, was man tun kann, das Ergebnis gleich zu akzeptieren und das Feld zu räumen.

Was bedeutet das für Wahlen in der Türkei? Heißt das, mit 13.000 Stimmen Vorsprung kann man keine Wahl gewinnen, erst mit 800.000?

Genau. Wir können nicht mehr sagen, Erdoğan respektiert Wahlergebnisse. Er wird alle seine Rechte des Widerspruchs, alle Macht des Staates bis zum Letzten einsetzen. Erst wenn der Unterschied eklatant ist, schweigt er.

Kann İmamoğlu eine Alternative zu Erdoğan werden?

İmamoğlu ist ein Politiker, der auch mit konservativen Kreisen reden kann. Er ist ein Sozialdemokrat, der nicht in das Bild passt, das die AKPler im Kopf haben: Er ist gläubig, ein Familienvater, der fastet und wenn nötig aus dem Koran rezitiert. Er ist jemand, den konservative Wähler*innen als Mensch wählen können, den sie zu sich nach Hause einladen würden. Es gibt sehr wenige Familien in der Türkei, die es ablehnen würden, İmamoğlu zum Nachbarn zu haben.

Was bedeutet es für die CHP, dass ein solcher Politiker in dieser Partei agiert?

Vor 20 Jahren wäre İmamoğlu nicht als CHP-Kandidat aufgestellt worden. Wegen der Debatten über den Laizismus sind aber die Menschen, die sich früher bei Mitte-rechts zu Hause fühlten, in die CHP zurückgekehrt. Darum ist es heute völlig normal, dass İmamoğlu in der CHP ist. Das zeigt, dass sich das Führungszentrum der CHP für ein breiteres Spektrum geöffnet hat. Die 17 Jahre AKP-Regierung hat Gruppen verändert und zusammengeführt, die früher niemals zusammengekommen wären.

Wie lange kann eine solche Vereinigung gut gehen? Was für eine Phase hat İmamoğlu zu erwarten?

Das Ergebnis hat Chancen geöffnet und Hoffnung geschaffen. Doch keiner kann wissen, was geschieht. Jetzt wird İmamoğlu erst einmal enorme Bedeutung beigemessen. Kurd*innen, AKP-Anhänger*innen und MHP-Anhänger*innen haben für ihn gestimmt. Alle, die ihn gewählt haben, hegen eigene Erwartungen. Es wird zum Beispiel Wähler*innen geben, die aus der rassistischen Ecke kommen und fordern, er solle das Problem der syrischen Flüchtlinge lösen. Egal, was İmamoğlu jetzt tut, einen Teil der Menschen, die ihn jetzt gewählt haben, wird er verstimmen. Ich hoffe aber, er wird weiter auf einen integrativen Diskurs setzen und allgemein Zustimmung erhalten. Dieser Diskurs muss auf Landesebene übernommen werden.

Welche Rolle spielten die kurdischen Wähler*innen in dieser Phase?

Wir sehen, dass die HDP-Basis İmamoğlu gewählt hat. Sie positionieren sich klar gegen die AKP. Das heißt, sie stimmen nicht für die CHP, sondern gegen die AKP. Jahrelang wurde der kurdischen Wählerschaft und der HDP die Legitimierung verweigert. Bei jeder Gelegenheit wurde, auch von Seiten der CHP, ein Verrat der kurdischen Wählerschaft gewittert. In der CHP-Basis gab es die rassistische Befürchtung: „Die Kurd*innen werden uns verraten“. Ich hoffe, dass sich das ändert. Die CHP hat seit einigen Wahlen die Unterstützung der HDP und der kurdischen Wähler*innen bekommen, die paranoiden Gerüchte haben sich jedes Mal als falsch herausgestellt. Nun gibt es eine CHP, die der HDP und den kurdischen Wähler*innen dankt. In den kommenden Wahlen wird es für die CHP einfacher sein, Stimmen von der HDP zu bekommen.

Einige Kommentatoren reden nun von vorgezogenen Neuwahlen. Ist das wahrscheinlich?

Der Vorsitzende der MHP hat erklärt, es werde keine Neuwahlen geben. Das hängt aber nicht nur von der Regierung ab. Es gibt eine Wirtschaftskrise im Land. Inzwischen ist die AKP in die Phase der Auflösung getreten.

Steht die Türkei vor einem Neuanfang?

Viele AKP-Politiker*innen haben begonnen, sich kritisch zu äußern. Ab jetzt wird Erdoğan in der AKP nicht der einzige Name sein. Er wird nicht der einzige Akteur in der Politik sein. Das Muster, nach dem Erdoğan immer gewinnt und die CHP verliert, wurde durchbrochen. In die Politik kommt wieder Bewegung. Es kann sein, dass sich eine neue Partei gründet, zusammengesetzt aus ehemaligen AKP-Politiker*innen.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

Aysuda Kölemen, geboren 1976 im türkischen Adana, studierte Politikwissenschaften an der Georgia-Universität in Athens, USA. Derzeit forscht sie zu Autoritarismus und zivilem Widerstand in der Türkei. Kölemen lebt in Berlin und arbeitet am Bard College.

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