Auf zum Aufstand im Europaparlament

Die Wahl von David-Maria Sassoli zum Parlamentspräsidenten verlief noch friedlich. Für Widerstand sorgt die Personalie von der Leyen. Dass sie die EU-Kommission anführen wird, ist längst nicht klar

Abgestimmt: Der Sozialist David-Maria Sassoli führt das Europaparlament an Foto: Vincent Kessler/reuters

Aus Straßburg Eric Bonse

Es sollte der große Tag der europäischen Demokratie werden. Etwas mehr als einen Monat nach der Europawahl wählte das frisch konstituierte Europaparlament am Mittwoch in Straßburg seinen neuen Präsidenten. Der italienische Sozialdemokrat David-Maria Sassoli wird das Abgeordnetenhaus für die nächsten zwei Jahre führen.

Doch die Wahl stand im Schatten einer ganz anderen Entscheidung, die am Vortag in Brüsseler Hinterzimmern gefallen war: Die deutsche CDU-Politikerin Ursula von der Leyen soll nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs zur nächsten EU-Kommissionschefin aufsteigen. Und das Europaparlament soll diesen Vorschlag absegnen. Schon in zwei Wochen soll es so weit sein. Dann wählt das Parlament den oder die nächste Kommissionsspitze. Während der Europawahl hatten die Abgeordneten versprochen, dass dafür nur ein Spitzenkandidat infrage komme. Doch von der Leyen hat nicht einmal am Wahlkampf teilgenommen. Ihre Kandidatur wurde erst am Dienstag aus dem Hut gezaubert – von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und den anderen 27 EU-Chefs.

Das führte zu enormem Frust – und Widerstand. Manche träumen sogar von einem Aufstand. Doch wird es das Europaparlament tatsächlich wagen, von der Leyen abzulehnen und so einen Machtkampf mit den Regierungschefs aufzunehmen? Am Mittwoch ging es zunächst darum, die Muskeln im Parlament spielen zu lassen. „Sassoli hat 345 Stimmen bekommen, EVP, S&D & Liberale haben aber 444 Sitze im Parlament. Es gibt keine Von-der-Leyen-Koalition im Parlament!“, twitterte der Grünen-Abgeordnete Sven Giegold.

„Frau von der Leyen als Chefin der Kommission ist untragbar. Sie ist keine Spitzenkandidatin und steht in keinem Verhältnis zum Europäischen Parlament“ betonte auch Jens Geier, Chef der Europa-SPD. Ähnlich äußerte sich die grüne Spitzenkandidatin Ska Keller, die quasi zu den Leidtragenden des Coups zählt. „Dieser Hinterzimmer-Deal ist grotesk, er stellt niemanden zufrieden“, sagte sie. Özlem Alev Demirel, friedenspolitische Sprecherin der Linken, sprach von einem „bösen Omen“. Von der Leyen stehe für das Ziel, „die EU unweigerlich zu einer Rüstungsunion umzubauen“.

Probleme räumte sogar Merkel ein, die den Deal offenbar eingefädelt hatte. Sie sagte, sie wolle sich für ein neues Verfahren mit dem EU-Parlament einsetzen, damit es nicht wieder zu einer solch misslichen Situation komme. Allerdings hat Kanzlerin Angela Merkel die missliche Situation selbst herbeigeführt. Ganz am Anfang stand ihr Versuch, den selbst in Deutschland kaum bekannten CSU-Politiker Manfred Weber zum Spitzenkandidaten der Konservativen aufzubauen und zum nächsten Kommissionschef zu machen.

Dies rief Widerspruch hervor – vor allem bei Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, der Manfred Weber mangelnde Erfahrung vorwarf und das „System“ der Spitzenkandidaten grundsätzlich infrage stellte. Als sich herausstellte, dass Weber keine Mehrheit finden würde, schwenkte Merkel brüsk auf den sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Frans Timmermans um. Doch der wurde vom neuen „Ostblock“ aus den osteuropäischen Visegrád-Staaten und Italien auf brutalste Art und Weise ausgebremst.

Am Ende ließ Merkel dann die Spitzenkandidaten fallen – und zog ihren weiblichen „Joker“ von der Leyen aus dem Ärmel. Oder stammt der Vorschlag gar nicht von ihr? War es gar Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron? Oder kam die Idee vielleicht von den Visegrád-Staaten?

Von der Leyen stehe für das Ziel, „die EU zu einer Rüstungsunion umzubauen“

Özlem Alev Demirel, friedens­politische Sprecherin der Linken

Die Kanzlerin wollte es auch auf Nachfrage nicht sagen. Jedenfalls entschied sie sich für eine Kandidatin, die niemand auf dem Zettel hatte und die in keiner Weise an der Europawahl beteiligt war – schon gar nicht als Spitzenkandidatin. Das Ganze wirkte wie ein Coup – und nicht wie ein geordnetes Verfahren, das nach demokratischen Spielregeln abläuft. Deswegen kündigen einige Europaabgeordnete bereits jetzt einen Aufstand an. Allerdings ist fraglich, ob der Protest am Ende stark genug sein wird, um von der Leyen noch zu verhindern.

Merkels einstiger Günstling Manfred Weber ist schon eingeknickt. Er ziehe seine Kandidatur zurück und beuge sich der Meinung seiner Partei, erklärte er am Dienstagabend in Straßburg. Damit dürfte die konservative Europäische Volkspartei (EVP), der auch CDU und CSU angehören, dem Deal zustimmen, wenn auch zähneknirschend.

Um die letzten Widerstände bei ihren Parteifreunden zu überwinden, reiste von der Leyen am Mittwoch nach Straßburg, wo sie sich am Nachmittag mit der EVP und den deutschen Europaabgeordneten traf. In der kommenden Woche will die CDU-Politikerin auch mit den Grünen sprechen. Der härteste Brocken dürften aber die Sozialdemokraten sein. Sie drohen damit, mit Nein zu stimmen. „Für die Europa-SPD ist klar: Frau von der Leyen bekommt unsere Stimmen für ihre Wahl als Präsidentin der Kommission nicht“, teilte SPD-Mann Geier am Mittwoch nach der Wahl des neuen Parlamentspräsidenten mit.

Die Genossen streben nun eine „progressive Allianz“ an, die die Pläne der Kanzlerin durchkreuzen soll. Ein solches Bündnis hatten die Sozialdemokraten allerdings auch schon nach der Europawahl angekündigt. Jedoch ist es bisher nicht zustande gekommen.