Die große Taktik-Analyse

Wie werden die Halbfinals laufen? Wer gewinnt, und vor allem warum? Über Gegenpressing, käufliche Systeme und die Macht von Standards

Powerfußball: Dominique Bloodworth (l.) aus den Niederlanden rammt Valentina Giacinti (Italien) weg Foto: Francisco Seco/dpa

Von Frédéric Valin

Schweden ist sicher nicht das fußballerisch begnadetste Team dieser WM, allerdings haben sie eine Idee, und vor allem: die ziehen sie durch. In der gesamten K.-o.-Runde hat kein Team einen Rückstand umgebogen bekommen, mit Ausnahme der Schwedinnen gegen Deutschland.

Schwedens Spielanlage ist simpel: sicher stehen, in die Zweikämpfe kommen, auch mal eklig sein, und sobald man den Ball hat, geht die Post ab. Es ist Underdog-Fußball, der sich aber mit einem großen Selbstbewusstsein paart. Vorm Spiel gegen Deutschland hielten sich die Spielerinnen nicht mit großen Worten zurück, und sie ließen tatsächlich auch Taten folgen. Gegen ein zwanzig Minuten sehr gewitzt spielendes deutsches Team warteten sie einfach ab, bis einmal der Ball hinter die weit aufgerückte gegnerische Abwehr fiel, und dann kippte das gesamte Geschehen. Fast meinte man, einer griechischen Tragödie zuzusehen, in der ein unabwendbares Schicksal seinem Ende entgegenrollt.

Die Niederlande haben das Halbfinale nach zwei Standardtoren gegen Italien erreicht. Es könnte so aussehen, als hätten sie nur ihre körperlichen Vorteile ausgespielt; insgesamt sind Tore nach Standards bei dieser WM (ganz analog zur Weltmeisterschaft der Männer) häufig. Es gab noch einen weiteren wichtigen Aspekt: Die Niederlande erwies sich als pressingresistent. Italien schob immer wieder vorne an, während die Niederlande den Druck im Zentrum auf den Flügeln umgingen, um den Ball nach vorne zu tragen; und ging er vorne verloren, zogen sie sich nicht zurück, sondern pressten sofort gegen den Ball, was dazu führte, dass Italien kaum Bälle kontrolliert in gefährliche Zonen gespielt bekam.

Weil aber Schweden ausgesprochen zweikampfstarke Spielerinnen im defensiven Mittelfeld hat, wird es wohl auf ein intensives, nicht eben ansehnliches Halbfinale hinauslaufen. Beide Mannschaften sind in der Lage, des Gegners Stärken zu kontern. Sieht nach Elfmeterschießen aus.

Die USA haben bewiesen, dass sie gegen ganz unterschiedliche Spielstile gewinnen können; insbesondere gegen offensiv ausgerichtete, spielstarke Mannschaften haben sie ein Rezept. Kein Team verteidigt so solide wie die US-Amerikanerinnen, trotz deutlich zu sehender Geschwindigkeitsdefizite in der Innenverteidigung. Und selbst wenn es, wie gegen Frankreich in der zweiten Hälfte, eng werden sollte, hat die Mannschaft die notwendige Erfahrung, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Als Frankreich immer stärker aufkam, stellten sie von Vierer- auf Fünferkette um, sodass die Französinnen zwar viel den Ball hatten, auch in fast allen Statistiken vorne lagen, aber fast nie entscheidend vors Tor kamen. Die USA hingegen spielten ihre Angriffe sauber und konzentriert zu Ende. Zwanzig Mal schoss Frankreich aufs gegnerische Tor, die USA nur halb so oft; von diesen zehn Schüssen gingen aber acht auf die Kiste, während Frankreichs Versuche sich streuten wie beim Kirschkernspucken.

Wenn England druckvoll über außen kommt, bekommt die behäbige US-Defensive Probleme

England ist ein wenig zögerlich ins Turnier gestartet, spielt aber inzwischen astreinen Powerfußball: Norwegen im Viertelfinale wurde quasi überrollt. Entscheidend ist die große Flexibilität im Angriff, der zu Beginn des Turniers häufiger Abstimmungsprobleme hatte. Dann fand er immer besser zueinander und präsentiert sich inzwischen sehr passsicher. Etwas Sorgen macht das Mittelfeld, gerade beim Sieg gegen Japan stimmten häufiger die Abstände nicht. In der zweiten Hälfte gab es nicht genug Druck auf den Ball, sodass Japan Lücken in der Mitte fand; also in jenem Bereich, den die US-Amerikanerinnen gern bespielen.

Wenn aber England wieder so druckvoll über die Außen kommt, dürfte das die etwas behäbige US-Hintermannschaft vor Probleme stellen. Entscheidend wird sein, lange Bälle hinter die Kette zu vermeiden, um Alex Morgan aus dem Spiel zu nehmen; und auch, kein frühes Tor zu kassieren. Wenn das gelingt, werden die USA von außen aufgerollt werden. Es sind nicht unbedingt die taktisch interessantesten Mannschaften, die dieses Turnier dominieren: Deutschland zum Beispiel hat extrem variabel, mit vielen Positionswechseln gespielt. Bisweilen wehte ein Hauch von Nagelsmann durchs Stadion. Das ging auf Kosten einer soliden Verteidigung, und es ging auch auf Kosten des Selbstbewusstseins.

Es zeigt sich auch, dass der Erfolg bei dieser WM eine soziale Komponente mit ökonomischen Hintergrund hat: Mitentscheidend für den Erfolg der US-Amerikanerinnen ist eine außergewöhnlich solide Vorbereitung. Dass sie mitten im Spiel problemlos das System umstellen können, ist Ergebnis lang eingespielter Abläufe. Gute Taktik lässt sich eben auch kaufen.