WM-Kolumne Gilet jaune: Fußball auf Briefmarkengröße

Wo man nicht überall auf Experten trifft – und warum am Ende der Afrika-Cup wichtiger sein kann. Fußball in einem tunesischen Bistro in Lyon.

Ein Fernseher mit Fußball auf dem Bildschirm hängt zwischen politischen Plakaten

Wo man nicht überall landet beim Fußballschauen in Frankreich Foto: Andreas Rüttenauer

Ich sitze vor einem Fernseher neben einem an die Wand gemalten Hamburger, und der Hamburger ist etwa sechs Mal so groß wie der Bildschirm. Ich sollte also vielleicht sagen: Ich sitze vor einem gigantischen Hamburger und da ist auch ein Fernseher. Ich gucke das deutsche Aus in einem tunesischen Bistro in Lyon.

Das hat Gründe. Mein Gastgeber ist unterwegs, und ich habe das WLAN-Passwort nicht. Die Box ist in einem verschlossenen Glasschrank, und nach einigen Versuchen, es verrenkt auf dem Boden liegend abzulesen, beschließe ich, draußen gucken zu gehen. Die Gegend ist, man würde sagen, sozial schwach, aber ich erinnere mich an dieses Bistro. Ob da wohl Frauenfußball läuft?

Zwei ältere arabischstämmige Männer sind da, der dürre Inhaber und ein befreundeter Gast. Sie helfen sofort. Bloß schafft der Inhaber es nicht, das Programm umzuschalten. Die Fernbedienung will nicht. „Die Hitze“, murmelt der Gast. „Die Hitze“, stimmt der Inhaber zu. Er wechselt umständlich die Batterien. Dann geht gar nichts mehr. Er wechselt den Bildschirm, jetzt ist der Bildausschnitt nur auf Briefgröße. Aber er gibt nicht auf, nach etwa einer Viertelstunde geht es.

Der Gast setzt sich zu mir und kommentiert leidenschaftlich für Deutschland, auf Französisch mit starkem ausländischem Akzent, ich verstehe nur die Hälfte. „Gib ab, schneller jetzt, außen, allez!“ Das 1:0 fällt, „Lina Magull“, sagt er, „die ist sehr gut, wo spielt sie noch?“ Allmählich fange ich an, mich zu wundern. Irgendwann sagt er ungefragt: „Meine Tochter spielt übrigens Fußball.“ Wo denn?, frage ich. „Sie hat in Lyon gespielt, jetzt spielt sie in Montpellier.“

Ich bin einigermaßen platt. Ist sie Profi? „Nein, nein“, sagt er, „sie kann davon nicht leben.“ Er hebt dann zu einer Erklärung über die neue Profiliga in England an, wie toll das sei. Und er schimpft, dass die Deutschen kaum zur WM reisen. „Warum unterstützen sie ihre Frauen nicht?“

Ich bin aufs Neue überrascht, werde mir meiner Vorurteile bewusst, nichts davon hätte ich hier erwartet. Zur Halbzeit haut mein Kommentator mit einem Freund ab. Ich bleibe zurück mit dem netten Inhaber. Der versteht nicht viel von Frauenfußball, tröstet aber sehr engagiert („Noch 25 Minuten, da ist noch alles drin“), schenkt mir eine Fanta und schleppt noch einen Ventilator an. Der tut es aber auch nicht. Macht nichts, sage ich, Hauptsache, der Fernseher geht. Die Frauen-WM gucke er nicht, sagt er. „Aktuell ist Afrika Cup, das ist für mich wichtiger.“ Leuchtet ein. Dann ist das Spiel aus.

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Jahrgang 1991, studierte Journalismus und Geschichte in Dortmund, Bochum, Sankt Petersburg. Schreibt für die taz seit 2015 vor allem über politische und gesellschaftliche Sportthemen zum Beispiel im Fußball und übers Reisen. 2018 erschien ihr Buch "Wir sind der Verein" über fangeführte Fußballklubs in Europa. Erzählt von Reisebegegnungen auch auf www.nosunsets.de

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