Überfüllte Gefängnisse in Nigeria: Sozialarbeit statt Haft

Nigerias Knäste sind voll, Gerichte überlastet, und mutmaßliche Täter warten jahrelang auf den Prozess. Im Bundesstaat Oyo ändert sich das.

Porträt Aderonke Ige

Die Juristin Aderonke Ige hat den Community Service mit aufgebaut Foto: Katrin Gänsler

IBADAN taz | Der Mann, der ein langärmeliges schwarzes Hemd und Shorts trägt, fällt auf dem weitläufigen Gelände des Iyaganku-Gerichts in der Millionenstadt Ibadan im Bundesstaat Oyo nicht auf. Alte, hohe Bäume sorgen für Schatten. Überall sind einzelne Bürotrakte gebaut worden.

Der Mann kennt seinen Weg genau. Jeden Nachmittag steht er kurz vor 14 Uhr vor der Tür, an der „Community Service“ steht. Dort erhält er einen Handbesen, eine Sense und ein blaues Hemdchen. Als er es überstreift, blickt er etwas angewidert. Auf der Rückseite steht „Community Service Offender“. Er ist nach Einschätzung der Justiz straffällig geworden. Ein Richter kam zu dem Ergebnis, dass er Geld gestohlen oder unterschlagen hat. Genau lässt sich das nicht rekonstruieren. Seinen Namen möchte er nicht nennen, aus Angst, von Bekannten erkannt zu werden oder sich seine Zukunft zu verbauen.

Über das Urteil ärgert er sich auch Wochen später noch. „Eine Mitarbeiterin von mir hat das Geld genommen. Als ich das merkte, ist sie zur Polizei gegangen und hat gesagt, sie hätte mir Geld gegeben. Ich bin unschuldig“, beteuert er. Drei Sätze später klingt er jedoch schon versöhnlicher. Immerhin muss er die Strafe nicht im Gefängnis absitzen, sondern leistet drei Monate lang Sozialstunden ab. Überprüft wird das am Gericht von vier Mitarbeitern der Abteilung Community Service.

Für die alternative Form von Bestrafung macht sich die Anwältin Aderonke Ige schon seit Jahren stark. Früher arbeitete sie für das Caritas-Komitee für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden (JDPC). Die Organisation hat in Oyo eine lange Tradition der Gefängnisseelsorge. „Im Laufe der Zeit stellten wir aber fest, dass es nicht nur um Beratung und die Übergabe von Spenden geht“, sagt sie, „stattdessen beobachteten wir, dass die Gefängnisse immer voller wurden. Es kam zu Ausbrüchen von Epidemien. Die Häftlinge bekamen Tuberkulose und infizierten andere. Die Gesundheitsfürsorge funktionierte nicht und das Essen war viel zu knapp.“

Eine alte Tradition

So entstand die Idee, Menschen, die etwa Lebensmittel gestohlen oder einen Streit angezettelt hatten, nicht mehr zu Haftstrafen, sondern zu gemeinnütziger Arbeit zu verurteilen. Diese wird bisher meist auf dem Gerichtsgelände abgeleistet, damit die Bevölkerung sich langsam an diese Form der Bestrafung gewöhnt und nicht misstrauisch wird. Dabei knüpft es an eine alte Tradition an.

Bei den Yoruba, der größten ethnischen Gruppe im Südwesten Nigerias, mussten Verbrecher bei kleineren Delikten meist Gras um den Königspalast schneiden, wurden aber nicht eingesperrt. Bis die Idee jedoch umgesetzt werden konnte, waren lange Verhandlungen, Gesetzesentwürfe, eine Justizreform und vor allem viel Lobbyarbeit nötig. Zu den ersten Verurteilungen zu Sozialstunden kam es im Juli 2017. Bis Januar 2019 haben diese mittlerweile 124 Menschen abgeleistet. Noch sind die Gefängnisse also weiterhin voll.

Das größte Gefängnis im Bundesstaat liegt etwas versteckt mitten in Ibadan. Der Bau von Agodi ist mattgelb, Fensterrahmen und Türen sind grün gestrichen. Es dauert lange, bis sich die Tür öffnet und alle Besucher kontrolliert worden sind. Besonders groß ist an diesem Nachmittag die Sorge, dass Handys oder Kameras für verdeckte Aufnahmen eingeschmuggelt werden. Nach den Kontrollen ist es vor allem eine große Tafel, die für Aufmerksamkeit sorgt. Darauf steht, dass in dem Gefängnis, das für 390 Menschen Platz hat, aktuell 1.189 inhaftiert sind. Außerdem sind nur 159 überhaupt verurteilt.

Mitunter warten Insassen jahrelang auf ihren Prozess, vor allem, wenn Geld und Kontakte fehlen. „Einen Rechtsbeistand zu finden, ist schwierig“, sagt Aderonke Ige. Im ganzen Land sind zwar Rechtsberatungen eingeführt worden. Doch davon profitieren längst nicht alle. Rechtsanwälte wollen wiederum nicht kostenlos arbeiten. Was die Haft zusätzlich unerträglich macht, sind die hygienischen Bedingungen. „Statt Toiletten mussten die Männer Eimer nutzen“, so Ige. Im vergangenen Jahr saßen nach Schätzungen mehrerer nichtstaatlicher Organisationen gut 72.000 Menschen in Haft. Das sind bei etwa 200 Millionen Einwohnern zwar nur 37 je Hunderttausend (in Deutschland: 75 je 100.000). Etwa 80 Prozent davon aber warteten auf ihren Prozess.

Die Wartezeiten kritisiert auch Collins Okeke, der für die Organisation Human Rights Law Service (Hurilaws) arbeitet. „Wir haben einige Herausforderungen, was die Einhaltung der Menschenrechte in Gefängnissen angeht.“ Besonders betroffen seien genau jene Menschen, die in Untersuchungshaft sitzen. „Dafür gibt es in den Gesetzen keine Vorkehrungen. Sie sind diejenigen, die am meisten leiden. Manchmal warten sie länger auf das Verfahren, als die maximale Haftstrafe eigentlich dauert“, kritisiert der Jurist.

2 Männer in orangen Warnwesten unterhalten sich mit einem in blauem Community-Service-Hemd

Ständiger Kontakt mit den Betreuern ist wichtig Foto: Katrin Gänsler

An diesen Nachmittag ist der Männertrakt Tabu, nur ein kurzer Blick in den Frauenbereich wird genehmigt. Ein gutes Dutzend Frauen sitzen in einem kleinen Raum, eine stellt aus Plastikperlen Schlüsselanhänger her. Gespräche sind nicht möglich. Etwas später kommen im Eingangsbereich neue Häftlinge an. Sie alle müssen einen Moment auf dem Boden knien.

Das ist dem Mann mit dem schwarzen Hemd erspart geblieben. Er steht mittlerweile auf einem Hocker und fegt Spinnweben aus den Ecken. Obwohl sein Status durch das blaues Hemdchen überall erkennbar ist, nimmt ihn niemand groß wahr oder starrt ihn an. Für einen Moment unterbricht er die Arbeit und sagt: „Ich hatte natürlich Angst, selbst ins Gefängnis zu kommen.“ Abschreckend sind nicht nur die schlechten Haftbedingungen, der mangelnde Platz oder das knappe Essen. Es sind vor allem die Kontakte zu echten Verbrechern. „Wenn dann jemand aus der Haft entlassen wird, ist aus einem netten Menschen ein schlechter geworden. In Gefängnissen lernt man einfach nichts Gutes.“

Motivation und Unterstützung

Amtsrichterin Olumide Ogunrin hat im High Court of Justice etwas außerhalb des Zentrums von Ibadan ein großes Büro im zweiten Stock. Von hier aus überblickt sie die ganze Stadt. Vor dem großen Gebäude, das etwas außerhalb liegt, steht die moderne Form einer riesigen Justitia, die in Gold angestrichen ist. Hier koordiniert Olumide Ogunrin den Community Service für den gesamten Bundesstaat Oyo. 25 Mitarbeiter hat sie, deren Büros an die verschiedenen Amtsgerichte angegliedert sind. „Ich selbst habe 2014 zum ersten Mal davon gehört. Das System ist neu und existiert so in Westafrika nicht.“ Doch obwohl es noch am Anfang steht, hält sie es schon jetzt für ein Erfolgsmodell.

„Zum ersten Mal kommen Menschen, die einen Bagatelldiebstahl begehen, nicht mit richtigen Kriminellen in Kontakt“, sagt Ogunrin. Stattdessen übernehmen die Mitarbeiter vom Community Service die Rolle von Sozialarbeitern. „Sie hören zu, geben Tipps für die Zeit danach, und vor allem motivieren sie.“

Das Klischee der zerrütteten Familie und schwierigen Kindheit möchte die Juristin eigentlich nicht bedienen. Dennoch erlebt sie, dass gerade jungen Männern, die kleine Straftaten begehen, Vorbilder und Unterstützung fehlen. „Ich kann mich gut an eine Gruppe junger Männer erinnern. Sie sind früh von zu Hause weggegangen, lebten auf der Straße und hatten nichts zu tun. Nach und nach sind sie zu Kleinkriminellen geworden. Bei Gesprächen haben wir festgestellt, dass sie nie geglaubt haben, irgendetwas aus ihrem Leben machen zu können.“

Geht es nach Olumide Ogunrin, wird es nicht bei den Sozialstunden bleiben. Erklärtes Ziel ist es, anschließend bei der Jobsuche zu helfen oder eine Ausbildung zu ermöglichen. „Das Programm lässt sich auf jeden Fall ausbauen, damit Menschen wieder eine Perspektive bekommen.“

Diese hat der Mann im schwarzen Hemd schon. Er erzählt von seinem Geschäft, um das er sich wieder voll kümmern kann, wenn er nicht mehr täglich zum Iyaganku-Gericht muss. Da er abends zu seiner Frau und den vier Kindern nach Hause gehen kann, würden seine Kunden zum Glück nichts vom Community Service merken. Er ist sich sicher: Noch einmal wird er nicht verurteilt werden. „Ich will meinen Kindern doch ein guter Vater sein. Sie sollen einen guten Charakter entwickeln.“

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