Hannover, ein Wimmelbild

So viel partizipative Formate gab‘s noch nie: Beim Festival Theaterformen in Hannover waren rund 200 Bürger in Stücken, Performances und Installationen zu erleben. Und auch die Staatsoper setzt mit der partizipativen App-Oper „Unterwelt“ auf Beteiligung

Öffentliche Traumabearbeitung in Kirchentagsmanier: Ausklang von „Die Geschwindigkeit des Lichts“ in der Mahnmal-Ruine der Aegidienkirche Foto: Andreas Etter

Von Jens Fischer

Heraus, ins Theater, auf die Bühne – mit der geballten Ladung eigener Wirklichkeit. Denn: „Untold Stories Dis­appear“. Das war das Motto des diesjährigen Theaterformen-Festivals in Hannover, das Sonntag zu Ende ging. Von 5.300 Eintrittskarten konnten etwa 4.500 verkauft, mit Rahmenprogramm und Fachtagung rund 10.000 Gäste gezählt werden. Viel wichtiger aber: 200 Neu-, Jung- und Altbürger waren in Stücken, Performances und Installationen zu erleben.

75 Hannoveraner zwischen 11 und 21 Jahren hat zudem die Staatsoper auf die große Bühne geholt, um sich mit dem Mythos sowie den Opern von Orpheus und seiner verstorbenen, aus dem Elysium zurückbeorderten Gattin Eurydike auseinanderzusetzen. Mit dieser Öffnung wollen die Theater auf die Vielfalt der Geschichten und Identitäten ihrer Stadt verweisen. Der Umfang an Partizipation ist bundesweit einmalig.

Glücklicherweise arbeiten vor Ort sehr gute Teambuilder als inhaltlich höchst engagierte Künstler, sodass die meisten Projekte nicht nur für die Teilnehmer, sondern auch für die Zuschauer wertvolle Erfahrungen ermöglichen. Zu feiern gibt es damit eine Tendenz des Umdenkens einiger zeitgenössischer Theatermacher, die das auch auf sich selbst beziehen.

„Uns war klar geworden, wie wichtig das Erzählen von Geschichten aus unserem Alltag ist. Ich meine ‚uns‘ als Menschen, nicht als Schauspieler*innen, denn bisher hatten wir immer versucht, das, was wir eigentlich sagen wollten, in einer Theatersprache zu verstecken“, notierte Performerin Luciana Paes vom brasilianischen Kollektiv Cia Hiato zu ihrer Version der Odyssee.

So wird die Sage des klassischen Altertums überschrieben, um politisch aktuelle Bekenntnisse abzulegen und intime biografische Episoden in physischer Exaltation darzubieten. Paes nimmt Kalypsos klammernde Liebe zu Odysseus als Ausgangspunkt, um ihre ebenso scheiternde Amor four mit einem chilenischen Kollegen in aller gebotenen Schamlosigkeit auszubreiten.

Raum für Erinnerungen

Das Bühnenmikrofon ist fürs Publikum freigegeben, das auch mittanzen und den Odysseus spielen darf – sich also umgarnen und so übermütig wie eindringlich küssen lassen von Paes. Auch ein leckeres Argument für diese Art Mitmachtheater.

Alle anderen Produktionen haben damit allerdings kaum noch etwas zu tun. Die Interaktion ist vor der Aufführung abgeschlossen, Zuschauer dürfen Zuschauer sein, müssen sich in „Kurzzeit“ aber doch bewegen – nämlich auf die Bühne des Schauspielhauses, das mit Krempel einer kompletten Wohnungseinrichtung vollgestellt ist. Es gilt hindurchzustromern: Schallplatten auflegen, in Fotoalben blättern, den letzten Tropfen aus einem abgestellten Weinglas nippen, das Geschirr im Küchenschrank begutachten oder sich ins Bett legen. Und dabei dem abwesenden Bewohner hinterherdenken.

Dem auf überall herumhängenden Kopfhörern zu lauschen ist – verstrickt in einen von Künstlern aus Hannover mit ihren Vätern aufgenommenen, vom weißrussischen Autor Konstantin Steshik verfassten Dialog eines dementen Seniors mit seinem Sohn übers Auflösen der Ich-Instanz beim Verschwinden des Gedächtnisses.

Passend dazu räumt die Bühnen-Crew nach und nach alle Requisiten beiseite, bis die Besucher im leeren Raum einer verschwunden Lebensgeschichte stehen. Endgültig zum Sitzenbleiben arrangiert ist „Aleppo. A Portrait of Absence“ des syrischen Autors Mohammad Al Attar. Er sammelt von Geflüchteten die Beschreibungen ihrer Lieblingsplätze in der einst blühenden Kulturmetropole. Hannoveraner (Schauspieler) lernen die Erzählungen auswendig und rezitieren sie, als wäre es ihre, an kargen Tischen für jeweils einen gegenüber sitzenden Zuhörer. Wenn schon die Orte zerbombt sind, sollen wenigstens die Erinnerungen nicht verschwinden. Selten bleibt ein Festival so konsequent bei seinem Thema.

Klar, dass auch der Schweizer Erinnerungsarchivar Mats Staub eingeladen ist. Er bringt Menschen zusammen, sich über die Grenzerfahrungen „death and birth in my life“ auszutauschen. Aus den Bewerbern hat Staub in Hannover sieben Gesprächspaare zusammengestellt, die über das qualvolle Sterben der Gattin, Mutter, Großeltern berichten, auch von zynischer Ignoranz in Krankenhäusern und segensreicher Pflege im Hospiz. Völlig ungeschützt und teilweise hilflos in nicht schon hundertmal formulierten Sätzen. Emotionales Suchen nach Worten, Strukturieren von Gedanken, Erklären tränenreichen Verstummens ist zu erleben – und Partner, die sich nie bohrend, kommentierend, floskelhaft mitfühlend einmischen, sondern aus dem Gesagten den Mut ziehen, selbst zu sprechen.

Mut, selbst zu sprechen

Staub filmt jeweils beide Pro­tagonisten mit statischer Kamera und zeigt sie in etwa einstündigen Videos auf zwei Bildschirmen. Klingt unspektakulär, hat durch die konzentrierende Kargheit der Installation aber große Wirkung. Kaum jemand kann sich dem Sog des Sprechens über die letzten Dinge entziehen, die sonst gern ignoriert werden.

Direkte Begegnung ermöglicht der Argentinier Marco Canale mit „Die Geschwindigkeit des Lichts“. An U-Bahn-Stationen in Linden und der Südstadt treffen Besucher in Kleingruppen zusammen und werden in Privatwohnungen eingeladen. Die Mieterin und ihre Freundinnen stellen sich mit autobiografischen Anekdoten und Liedgesang vor.

Man kommt so ins Plaudern – und wandert dann zum Treffpunkt aller Gruppen, in die Mahnmal-Ruine der Aegidienkirche, wo alle Beteiligten einige Aspekte persönlicher Traumabearbeitung öffentlich machen: SS-Vergangenheit des Vaters, Kriegs- und Fluchterfahrungen im 2. Weltkrieg und in Syrien, körperliche Misshandlung, psychisch kranke Eltern, der Abstieg von Hannover 96 sind so Sujets. Mit reichlich Musik collagiert Canale ein Bürgerbühnenspektakel in empathischer Kirchentagsmanier als vielstimmiges Wimmelbild der multikulturellen Viertel Hannovers.

Den Eindruck vermittelt auch der Blick in die Staatsoper. Martin Berger und Jonas Egloff haben in zehn Monaten mit jungen Hannoveranern „Unterwelt“ inszeniert. Dort wollen die Digital Natives hin, die die Bühne bevölkern mit betont eigenwilligen Kostümen, gekrönt von Basecap, Hoodie-Kapuze, Sonnenhut, Stirnband, Schirmmütze, Haarbandgetüdel, Kopftuch oder einfach nur ganz vielen eigensinnigen Haaren.

Oper selbst gestaltet: Jugendliche tanzen in der App-Oper „Unterwelt“ Foto: Thomas M. Jauk

Dank Coachings wurde die disparate Gruppe zum vielseitigen Performerteam entwickelt und vielen Jugendlichen zu beeindruckender Bühnenpräsenz verholfen. Sozial- und Theaterpädagogen begleiteten den Produktionsprozess, Dozenten in Sachen Parkour, Rockmusik, Rap kamen hinzu, Musik-, Tanz-, Schauspiel-, Dramaturgie-Workshops wurden durchgeführt. Oper also weniger als Kunstform gelehrt, sondern selbst gestaltet.

Mit der App in die Unterwelt

Bob Dylans „Knockin’On Heavens Door“ singen die Heranwachsenden erst mal. Der Höllenmeister als Türsteher des hinter dem Eisernen Vorhang verborgenen Totenreichs ist aber nicht zu bezirzen. Was sie dort stibitzen, aus der erinnerten in die gelebte Realität zurückholen wollen, das fokussiert die Aufführung. Zu hören ist von der verstorbenen Oma und ihren Erdbeerkuchen. Oder dem durch Krieg in Syrien zerstörten Familienleben. Von abwesenden Vätern, eingeschläferten Haustieren, im Iran zurückgelassenen Freunden. Es geht um sorglose Kindheit, den Rummelplatz des Heimatdorfes und „Fritz the Box“: das seit Wochen daheim nicht mehr funktionierende Internet.

Getanzt, gesungen, poetisch verklausuliert oder gar mit empathischem Schmerz vorgetragen wird all das Vermissen, auch mal als Whatsapp-Chat eingesprochen. Da der Abend als „partizipative App-Oper“ angekündigt ist, erkunden die Jugendlichen live auf Tablets auch die Variationsbreite von per App generierten Soundscapes, manipulieren das Material, applizieren Klangeffekte und mischen Sprachaufnahmen hinein – wollen per Geräuschkulisse das Entbehrte evozieren. Bis das Staatsorchester übernimmt und höchst elegant die Ouvertüre von Glucks „Orfeo ed Euridice“ zu Gehör bringt.

Daniel Preis singt als Orpheus die Arien vom Verlust der Angebeteten und spielt diesen mit Kollegin Marlene Gaßner nach. Wobei beide eher ineinanderrasseln als in zärtlichen Gefühlen zu erglühen. Sie, eine Joggerin, rennt ihn, den Lyra-Rocker, um. Minuten später: wildes Knutschen. Dann legt sie sich nieder. Angesichts des Premierenwetters ist Hitzschlag zu vermuten. Wiederbelebung zwecklos. Es folgt eine Totenklange des Schnulzensängers. Da ist der Höllenmeister dann doch gerührt. Lässt alle ein ins Reich der Schatten, das im Schwarz-Weiß-Design quadratischer Lichtpixel apart gestaltet ist.

Die Jugendlichen begegnen nun den Vermissten, die von Opernsängern dargestellt werden. Was ein spannendes Hin und Her aus zirzensisch intoniertem Rezitativ und schnoddrig artikuliertem Jugendjargon ermöglicht. Auch wird mal Doubletime-Rap mit ariosem Gesang konfrontiert. Aber vor allem die nachdrücklich behaupteten, eindringlich im Opernkontext vorgetragenen jugendlichen Sehnsüchte lassen den Abend als interaktiven triumphieren.

Mit der Vielfalt an unterschiedlichen Formen und Formaten der Partizipation ist ein beispielhafter Theatersaisonabschluss gelungen.