Die ganz besonders fröhliche Wissenschaft

Die Bremer GAK zeigt die erste deutsche Einzelausstellung des französischen Künstlers Mattia Denisse – und eröffnet wie beiläufig einen Raum für spekulatives Denken neu, der hierzulande viel zu lange unzugänglich war

Porträt des Künstlers als Expeditionist: Mattia Denisse reist auf den Spuren des absurden Reiseromans „Der Berg Analog“ Foto: GAK

Von Jan-Paul Koopmann

Nein, es geht nicht um Jim Morrison, nicht um die Doors, nicht mal um Musik. Aber heimlich grinst er doch aus dem Bild „The Alcoholic Lizard“ des französischen Künstlers Mattia Denisse. Der ist verbandelt mit der französischen Avantgarde, beschäftigt sich als Schriftsteller und bildender Künstler mit Fragen, die überall in der Gegenkultur ihre Spuren hinterlassen haben und sich bedienen aus einem Jahrhunderte alten Gedankenfundus aus Mythos, Esoterik, Wissenschaft und Kunst. Gemessen am Verweisdickicht dieser Ausstellung in der Bremer GAK klingt selbst ihr etwas sonderbarer Titel geradezu prägnant und aufgeräumt: „Stativ. Der Affe Anthropologe VS Die Eidechse Alkoholiker“.

Der GAK kommt das Verdienst zu, Arbeiten des 1967 geborenen Denisse zum ersten Mal als Einzelausstellung in Deutschland zu zeigen. Ein Rätsel ist die Schau jedoch schon deshalb nicht, weil sie keine Auflösung hat. Kuratorin Regina Barunke spricht von „einem Buch in drei Kapiteln“: ohne Anfang und Ende. Und das lässt sich auch lesen, ohne seine Bezüge in Gänze zu entschlüsseln. Das geht auch gar nicht: Diese Eidechse zum Beispiel ist eine persönliche Anekdote. Das Tier soll den Künstler ganz privat auf der Terrasse besucht und dort an seinem Getränk genippt haben.

Andere Motive der rund hundert Zeichnungen und Druckgrafiken lassen sich hingegen zurückverfolgen: Der biblische Lot aus Sodom etwa, der von seinen Töchtern abgefüllt und zum Beischlaf verführt wird. Symbolisch aufgeladen ist auf einer Zeichnung Caesars Überquerung des Rubikon zu sehen, Proust kommt vor und südamerikanische Schöpfungsgeschichten um den Geist Makunaima. Und immer wieder Mathe: In den Zeichnungen tauchen Symbole der Mengenlehre auf, oder geometrische Studien zu … irgendwas. Die Ideenwelt des Autodidakten Denisse ist surreal, ohne im entsprechenden -ismus aufzugehen und hat eben auch diesen dezent psychedelischen Einschlag, der womöglich auch den Gedanken an die Doors befeuert.

Auch sie entschlüpft allzu engen Ordnungssystemen: die trunksüchtige Eidechse, die Mattia Denisse persönlich aufgesucht haben soll Foto: GAK

Ein hingegen sehr konkreter und immer wieder auftauchender Bezugspunkt ist Denisses Lektüre des Romans „Der Berg Analog“, den der Autor René Daumal 1944 unvollendet hinterließ. Der letzte Satz dieses absurd-philosophischen Expeditionsromans zu einem imaginären Ort lautet: „Ohne sie (die Insekten) konnte eine ganze Zahl von Pflanzen, die bei der Befestigung lockeren Bodens eine wichtige Rolle spielen,“. Das Buch endet auf dem Weg zu seiner bis dato spannendsten Entdeckung – mit einem Komma. Das Buch sei „so witzreich-originell und nützlich wie eine Alchimisten-Formel“, urteilte der Spiegel seinerzeit, in die Kunst hat es aber durchaus gewirkt: Alejandro Jodorowskys berühmt-berüchtigter Film „Der Heilige Berg“ ist etwa von der Geschichte inspiriert und wird auch im Rahmenprogramm der Schau gezeigt.

Denisse hat so etwas wie eine Fortsetzung von Daumal geschrieben und gezeichnet. „Right After the Comma“ heißt dieses auf Deutsch bislang unveröffentlichte Buch, seine Bleistiftzeichnungen sind in der Ausstellung zu sehen. Hier porträtiert sich der Autor selbst in seinem Atelier, wo er mit optischen Geräten, Karten und Schnüren die Expedition nachvollzieht – und möglicherweise auch eine eigene plant. Unternommen hat er jedenfalls welche. Denisse ist ins brasilianische Amazonasgebiet und auf die Kapverdischen Inseln gereist und verbindet seine naturkundlichen Beobachtungen mit lokalen Mythen und erkenntnistheoretischen Fragen.

Man kann Daumals beim Zero-Sharp-Verlag in neuer Übersetzung erschienenen Roman als Schlüssel zu Denisses Arbeiten verstehen – nur sollte man sich auch davon keine abschließenden Antworten versprechen. Schon der Untertitel „Ein nicht-euklidischer, im symbolischen Verstand authentischer alpinistischer Abenteuerroman“ verrät den Spaß am Intellektuellen Anti-Akademismus und die Absage ans Eindeutige. Darum geht es letztlich auch: Es lässt sich um wirklich jeden Quatsch ein konsistentes Theoriegebäude zusammendeduzieren und mit Entschlossenheit verteidigen.

Und auch wenn die Zeichnungen bereits für sich ausgesprochen schön anzuschauen sind, liegt der eigentliche Gewinn dieser Ausstellung doch hier: in der spielerisch untergejubelten Erkenntnis, dass die Wahrung der naturwissenschaftlichen Form nicht das Ende vom Lied ist – und dass sie beileibe kein Allheilmittel gegen die grassierenden Irrationalismen unserer Zeit sein kann. Andersherum ist Denisse – überhaupt die von ihm verkörperte Avantgardeströmung – aber auch kein Vertreter der Antiaufklärung. Daumals Expeditionsleiter zum „Berg Anlog“ trägt etwa den Namen Sogol. Und Logos rückwärts ist eben doch etwas anderes als gar keiner.

Mancher Fadenlauf ist zu verstehen, mancher bleibt verwickelt: der Reiz von Denisses Arbeiten liegt im Dazwischen Foto: GAK

So eine denkende Zwischenposition mag heute nicht sonderlich populär sein, wichtig ist sie darum umso mehr. Die Mühe, Denisses Studien und Assoziationen nachzugehen, lohnt jedenfalls. Auch wenn das möglicherweise bedeutet, nach ein oder zwei Stunden in der GAK noch ein paar Tage mit Lesen zu verbringen. Etwa Alfred Jarrys „Pataphysik“, als Wissenschaft der imaginären Lösungen. Oder überhaupt: das Programm des bereits erwähnten zero sharp Verlags, der übrigens ebenfalls einen Auftritt im Begleitprogramm der Ausstellung haben wird.

Aber irgendwann landet man schließlich doch unweigerlich wieder bei der Kunst: bei Duchamp, Max Ernst oder Baudrillard, die sich alle ausgiebig herumgetrieben haben in literarischen, ästhetischen und philosophischen Grenzbereichen. Die paradoxen Spiele von Jarry, Daumal oder eben Denisse finden dann eben doch gar nicht so weit ab vom Betrieb statt. Man darf sich nur den Blick nicht verstellen lassen von den mühsam eingeübten Ordnungssystemen. Und das wiederum gilt dann längst nicht nur für die Kunst, sondern für fast alles.

Ausstellung bis 11. 8., GAK, Bremen

Do, 11. 7., 19 Uhr, Gespräch mit den Verlegern von Daumals „Der Berg Analog“

So, 14. 7., 11 Uhr, Ausstellungsführung und Vorführung von Jodorowskys Film „Der Heilige Berg“

René Daumal:„Der Berg Analog“. Aus dem Französischen von Maximilian Gilleßen. Zero Sharp, Berlin 2017, 192 Seiten, 18 Euro