Wie die einfachen Leute auf die Bühne der Geschichte treten

Ein Bericht für das Volk: Mit Zorn und durchaus parteiisch erweckt der Schriftsteller Éric Vuillard den Sturm auf die Bastille zum Leben

Mit diesem Schlüssel lässt sich die Bastille aufschließen. Er wurde dem ersten Präsidenten der USA, George Washington, als Symbol der Befreiung überreicht. Heute kann man ihn auf seinem ehemaligen Anwesen Mount Vernon, inzwischen Museum, sehen Foto: LIFE Picture Collection/getty images

Von Niklas Weber

Der Sturm auf die Bastille, das klingt nach Schulunterricht und der unendlichen Langeweile eines lustlos gehaltenen Referats, nach dem militaristischen Pomp französischer Nationalfeiertage, nach einem Ereignis, an dessen historische Bedeutung so oft erinnert wird, dass es seine Bedeutung für uns verloren hat.

Der Schriftsteller Éric Vuillard, der 2017 für „Die Tagesordnung“ mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, hat ein Buch über den Sturm auf die Bastille geschrieben. Warum? Ist das nicht alles durchgekaut und auserzählt? Doch: „Im Grunde weiß man nicht, was sich am 14. Juli ereignet hat“, sagt Vuillard und ruft den Historikern und ihren Erklärungen schon auf den ersten Seiten zu: „Ich glaube kein Wort davon.“

Wie in seinen anderen Arbeiten zum Aufstieg des Nationalsozialismus oder zur Kongokonferenz 1884/85 wählt der Autor die Form des Berichts (récit). Der récit ist der wissenschaftlichen Darstellung näher als dem historischen Roman – Vuillard kennt die Forschungsliteratur, ist in die Archive gegangen und hat die Quellen studiert. Sein Bericht, knapp „14. Juli“ betitelt, hat keine Hauptfigur, deren Geschichte durch das Ereignis führt. Geschichtswissenschaft ist das aber auch nicht, da Vuillard auf Fußnoten, auf das akademische Einerseits-Andererseits, ja auf ganze Szenen, die ihm nicht ins Konzept passen, verzichtet.

Éric Vuillard: „14. Juli“. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2019, 136 Seiten, 18 Euro

So fehlt bei ihm die berühmte Episode, in der dem Kommandanten der Bastille, Marquis de Launay, nach seiner Kapitulation auf dem Weg zum Rathaus von einem Koch der Kopf abgeschnitten wurde. Der Lynchmord darf sonst in keiner Darstellung des 14. Juli 1789 fehlen. Denn der Freiheitsmythos der Bastille hat seitdem auch eine Kehrseite, die Erzählung des erbarmungslosen „Mobs“ (populace), der mit de Launays Kopf durch die Straßen zog. Vuillard spart die Episode bewusst aus und erzählt stattdessen den Tod des Goldschlägers Sagault – einer von 98 Toten, die sonst nur als Statistik auftauchen.

Diese Perspektivenumkehr ist Vuillards eigentliches Anliegen. Die Geschichte der wahren Helden des 14. Juli sei noch nicht geschrieben worden, die Geschichte des Volks, der Menge, der kleinen Leute von Paris. Das „Volk“, das sind „bettelarme Greise, dickbäuchige Ladenbesitzer und bildschöne Mädchen“, Handwerker, Wirte und „Hundsfotte“, Schwarze und Weiße, „Immigranten und Taugenichtse“. Vuillard liebt die Aneinanderreihung von Namen (denn „das Bastille-Telefonbuch ist besser als die Liste der Götter bei Hesiod“), die die anonyme Masse in eine heterogene Ansammlung von Individuen verwandeln sollen. In Miniaturbiografien treten uns „Brueghel-Figuren“ entgegen, „Silhouetten“, die einen Augenblick lang auf die Bühne der Geschichte treten, um ihren Namen, vielleicht eine Tat zu hinterlassen und wieder zu verschwinden.

Das Wort „Volk“ weckt derzeit unschöne Assoziationen. Und tatsächlich neigt Vuillard zum Populismus, wenn er die Armut, das Leid und die Leidenschaften der kleinen Leute mit der Dekadenz des Ancien Régime kontrastiert, mit der Spielsucht Marie-Antoinettes, dem Prunk von Versailles, dem Luxus und der Verschwendung. Das liest sich streckenweise wie ein zeitgenössisches Pamphlet und ist in der Gegenüberstellung von Gut und Böse ziemlich manichäisch gedacht.

Dabei passt Vuillard die Sprache ihrem Gegenstand an, wird derb, melancholisch, pathetisch, wenn vom Volk die Rede ist, artifiziell, sarkastisch und manieriert, wenn es um die Welt des Adels geht. Ersteres ist großartig gelungen und manchmal sehr schön, was auch an der hervorragenden Übersetzung von Nicola Denis liegt. Letzteres aber verleitet den Autor zuweilen zu bildungsbeflissenen Metaphern, deren semantischer Mehrwert gering ist. Die Bastille als „Tempel des Horus“, „entseeltes Gesicht des alten Ägypten“, „Tarasque“, „Bàou“, „Orion“, „Kokytos“ – das ist auch bei paralleler Wikipedia-Lektüre kaum zu verstehen.

Manche Leben zählen mehr als andere – dagegen schreibt Éric Vuillard wütend und wortmächtig an

Doch Vuillards Zorn und seine Parteinahme erwecken das Ereignis und seine Protagonisten zum Leben, wie es ein abwägender Historikertext niemals könnte. Der Bericht setzt mit der „Affäre Réveillon“ ein, der Plünderung des Anwesens eines Fabrikbesitzers und dem anschließenden Massaker an den Plünderern. Das Volk hatte sich empört, weil jener Réveillon die Löhne senken wollte. Vuillard verschweigt uns, dass das vielleicht nur ein Missverständnis war. Doch die Ungenauigkeit und die Vereindeutigung haben Methode. Für die Arbeiter_innen aus den Vierteln Saint-Antoine und Saint-Marcel war das Gerücht Wirklichkeit, und Vuillard will endlich ihre Version der Geschichte erzählen. „Manche Leben zählten mehr als andere“, lässt er den sterbenden Goldschläger denken, und dagegen schreibt er wortmächtig an.

Vuillard ist ein politischer Schriftsteller, sein Buch auch eine Kampfansage an die Welt von heute. Es geht um eine Aktualisierung, um eine Reaktivierung des Mythos. „Vulgärsoziologie“ hat die Zeit kürzlich die engagierte Literatur von Édouard Louis genannt. Den „14. Juli“ könnte man als Vulgärhistoriografie bezeichnen, nicht im Sinne einer Beleidigung, sondern eines Lobs.