Wally Mühleis und das Glück

VERLANGEN Brigitte Kronauer ist eine Autorin mit einem bösen Blick. Aber auch eine mit Erbarmen. „Zwei schwarze Jäger“ heißt ihr neuer Roman – er verzahnt seine Figuren wie ein Schnitzler’scher Reigen

Der Wunsch, die Welt möge ein Ort des Glücks sein, ist groß. Aber Wünsche werden bei Brigitte Kronauer selten wahr

VON JOCHEN SCHIMMANG

Brigitte Kronauer ist bekanntermaßen eine außerordentlich bösartige Schriftstellerin. Ihr Blick auf die stummen und weniger stummen Kämpfe zwischen den Menschen ist immer so genau, dass man sich als Leser bei keiner ihrer Figuren ankuscheln kann, weil diese etwa „auf der richtigen Seite“ stünde. Was sind wir doch alle erbärmlich, denkt man nach einer gewissen Weile, und kann dagegen nicht einmal Einspruch erheben.

Über dieser Tatsache wird jedoch leicht übersehen, dass die Darstellung des Erbärmlichen, gleichsam komplementär zum bösen Blick, immer von Erbarmen begleitet ist, so sehr, dass man Kronauer ebenso gut als eine außerordentlich menschenfreundliche Autorin bezeichnen könnte, wie bei einem Vexierbild: je nachdem, von welcher Seite man den Text betrachtet.

Das poetische Programm, das dahinter steht, wird in ihrem neuen Roman schon früh formuliert. Von der Gräfin Aurora von Königsmark, die den zweiten Teil des Buches eröffnet, heißt es: „Aurora nahm sie alle, die Präsidenten, Generäle, Gelehrten, Ordensträger, bei den Banketten nicht ernst. Die glaubten, die Welt zu erkennen. Aurora aber wusste es besser. Man konnte nur Einfälle haben über die Welt!“

Einfälle über die Welt haben sie alle, die Akteure in „Zwei schwarze Jäger“, vorab die Schriftstellerin Rita Palka, deren Fantasie alle anderen Figuren entspringen. (Dem Roman ist freundlicherweise ein Personenverzeichnis vorangestellt, wenn es auch bei Weitem nicht so umfangreich ist wie bei Dostojewski oder Tolstoi.) Einfälle über die Welt zu haben, ist schließlich Ritas Beruf, von dessen Niederungen gleich am Anfang in einem fulminanten Kapitel über eine total missglückte Lesung in der Provinz die Rede ist. Für jeden lesereisenden Autor ist die Lektüre dieses Kapitels ein ungetrübter Genuss mit allen dazugehörigen Ingredienzien: die komplizierte Anreise in die kleine Stadt, der kulturbeflissene Einladende, Herr Schüssel, und seine missgünstige Gattin, der begrüßende Bürgermeister, der die Autorin mit falschem Namen anspricht und dann verschwindet, und der unglückliche kleine Trupp der Zwangsverpflichteten, die das Publikum darstellen: Nicht einmal zehn Leute, den eigenen ältesten Sohn, der fast noch ein Kind ist, eingeschlossen, konnte Herr Schüssel für das kulturelle Ereignis rekrutieren, und von denen, das spürt Rita natürlich, würde außer Herrn Schüssel jeder Einzelne am liebsten dem flüchtigen Bürgermeister folgen, wenn er nur könnte.

Brigitte Kronauers scheinbar grenzenlose Fantasie, die direkt aus ihrer Sprache erwächst, verführt Rezensenten zuweilen dazu, vor ihrem Werk sprachlos zu werden und den Eindruck zu erwecken, bei ihren Romanen handele es sich um ausufernde und irgendwie auch beliebige Sprachgebilde. Kronauers neuer Roman ist aber keineswegs ein „später Maskenball der Poesie“, wie eine Kritikerin schwärmerisch vermutete, sondern erzählt eine recht klare Geschichte.

Im schon erwähnten ersten Teil wird die Schriftstellerin Rita Palka als die eigentliche Autorin der Geschichte vorgestellt, in deren Verlauf sie selbst hier und da als Randfigur auftaucht. Der zweite Teil führt nach und nach das umfangreiche Personal ein und deutet die Geschichte jedes Einzelnen zumindest an, wobei die einzelnen Figuren nach dem Muster des Schnitzler’schen Reigens miteinander verzahnt sind, auch wenn es hier nicht nur um Erotik geht (aber doch ganz erheblich, wie bei Kronauer auch nicht anders zu erwarten). Wie da das unterschiedlich gefärbte, aber fast unterschiedslos enttäuschte Glücksverlangen der Einzelnen nacheinander vorgeführt wird, das wünschte man sich auf der Bühne, für dieselbe eingerichtet am besten von Botho Strauß. Dabei ist, was die Figuren umtreibt, immer auch sozial verortet, und im Hintergrund scheint Hartz IV ebenso auf wie die abgelebten Konsumparadiese unseres Alltags und die VW-Autostadt. In den höheren Kreisen des Romans geht es durchaus um den Distinktionsgewinn gemäß Bourdieu. Kronauers Bücher haben ja nie auf einem anderen Stern gespielt, sondern immer hier und heute.

Dennoch stehen diese Figuren nicht unterschiedslos und gleichrangig nebeneinander. Die zentrale Figur dieses zweiten Teils und des ganzen Buches ist die kleinwüchsige Wally Mühleis, finanziell durch Erbschaft unabhängig, erotisch aber bis auf eine Liebesnacht vom Leben verschmäht. Zwei Menschen hat Wally mit dem Dolch ihres Oom Henk hinterrücks erstochen, ein betrunkenes Mädchen auf einer Parkbank und einen Mann im Rollstuhl, beide in Süddeutschland, weit weg von ihrem Wohnort, und zu beiden ohne jede persönliche Beziehung. Das gesteht Wally in einem Abschiedsbrief an eine Nachbarin, die einzige, die sie schätzt, und geht dann, mit Steinen in den Taschen beschwert wie einst Virginia Woolf, ins Wasser. Die Nachbarin Helene Pilz übrigens, selbst im Rollstuhl sitzend und mit dem Verblühen ihrer Schönheit beschäftigt, behält den Brief für sich.

Im dritten Teil, der aus zum Teil recht kurzen Skizzen besteht, begegnen wir den Akteuren noch einmal in verschiedenen Zusammenhängen, chronologisch sowohl vor wie nach Wallys Geständnis und Freitod. Ein Puzzle setzt sich zusammen. Es geht dabei um Erhellungen, nicht aber um eine wirkliche Rekonstruktion der Vorgeschichte von Wallys Taten. Dies ist schließlich kein psychologischer Roman. Im Kapitel „Lord Nicht“ wird in Gestalt der Steuerberaterin Martina Jeckchen noch einmal exemplarisch die Spannung zwischen dem bösen Blick und dem Wunsch, menschenfreundlich zu sein, vorgeführt.

Die Szene spielt auf dem Bahnhof Altona: „Furchtbar, dass die hier alle Menschen sein wollen. Und jeder einzelne überzeugt, sich vor lauter Wichtigkeit am Himmelsrund zu scheuern …“ Von Herrn Graubube aber, einem von Martinas Klienten, natürlich ein Anagramm von Baugrube, wie Kronauer überhaupt auch in diesem Roman vor herzerfrischenden Kalauern keine Scheu hat, von Herrn Graubube also heißt es: „Sein Wunsch, die Welt möge ein Ort des Glücks sein, ist ungeheuer groß.“ Doch die Wünsche werden selten und immer nur temporär erfüllt, und manchmal nimmt die Erfüllung eine etwas unbeholfene und doch eigentümlich anrührende Gestalt an: „Wie früher legt er den Kaffeelöffel prinzipiell auf die Tischdecke und stellt die Tasse immer neben die Untertasse. Eine Art Freiheitsdurst wahrscheinlich.“

So ist das mit dem Leben der Wünsche, und niemand kann uns das so fein, so detailliert, so betrüblich und auch so erheiternd vorführen wie Brigitte Kronauer.

Brigitte Kronauer: „Zwei schwarze Jäger“. Klett-Cotta, Stuttgart 2009, 286 S., 21,90 Euro