Kriegs-verbrechen – schafft Den Haag Gerechtigkeit?
JA

STRAFJUSTIZ Am 26. Oktober beginnt das Verfahren gegen den ehemaligen bosnischen Serbenführer Radovan Karadžić – einer der letzten Prozesse des Haager Jugoslawientribunals

Richter Hans-Peter Kaul, 66, ist Vizepräsident des Internationalen Strafgerichtshofs

Im Verhältnis zu den Konfliktsituationen und Krisen dieser Welt wird der Internationale Strafgerichtshof immer klein und schwach sein, eher ein Symbol. Dennoch ist der Gerichtshof ein großer Durchbruch. Erstmals gibt es ein internationales Strafgericht, welches nicht selektiv ist, sondern auf dem allgemeinen Rechtsgrundsatz „Gleichheit vor dem Recht, gleiches Recht für alle“ beruht. Die durch den Strafgerichtshof verkörperten Standards und Verbote sind bereits wirksam und werden zunehmend anerkannt. Davon geht international eine Präventions- und Abschreckungswirkung aus, auch wenn diese schwer messbar ist. Moralisch gesehen ist unser Gericht stark. Denn immer mehr Menschen in unserer einen Welt stimmen überein, dass Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen nicht straflos bleiben dürfen, ganz gleich, welchen Rang und welche Nationalität die Täter haben. Alle Bundesregierungen seit Kohl/Kinkel und alle Parteien im Bundestag haben den Internationalen Strafgerichtshof konsequent unterstützt, sogar gegen die zeitweiligen Unterminierungsversuche durch die Bush-Regierung. Man darf hoffen, dass auch künftig in Berlin Prinzipientreue überwiegt und nicht jene immer wieder einmal aufscheinenden Tendenzen zu sogenannter Realpolitik, Zynismus und bloßen Lippenbekenntnissen.

Kenneth Roth, 54, ist Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch

Der bevorstehende Prozess gegen Radovan Karadžić wird den hohen Erwartungen gerecht, die mit dem Jugoslawientribunal verbunden waren. Der Weg ist nicht einfach gewesen. Während der Verhandlungen über das Ende des Bosnienkrieges hieß es, die Anklage könnte ein Hindernis für den Frieden werden. Das Gegenteil ist eingetreten. Damit Den Haag aber Gerechtigkeit schaffen kann, egal ob vor dem Jugoslawien-Tribunal oder vor dem Internationalen Strafgerichtshof, müssen die Staaten ihre Verpflichtung zu Verantwortlichkeit und Kooperation standhaft einhalten. Nur dann können internationale Strafgerichte Erfolg haben.

Wolfgang Kaleck, 49, European Center for Constitutional and Human Rights e. V.

Gerechtigkeit ist mehr als ein Gerichtsurteil. Aber Den Haag kann einen Beitrag zur Gerechtigkeit leisten. Denn neben Strafverfahren gegen Einzelpersonen liefern die Gerichtshöfe auch den Stoff für rationale gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit Unrechtstrukturen. Wenn Den Haag vernünftige und unvoreingenommene Ermittlungsarbeit leistet, sind etwa Massenvergewaltigungen und Massaker nicht mehr zu leugnen. Wenn dann noch eine Verständigung darüber erfolgt, dass solche Taten als Kriegsverbrechen gebrandmarkt und sanktioniert werden, ist das sowohl Vergangenheitsaufarbeitung als auch Präventionsarbeit.

Ljubinka Petrovic-Ziemer, 40, arbeitet am Berghof Forschungszentrum in Berlin

In Den Haag kann Recht gesprochen werden. Auch wenn die Resultate nicht immer zufriedenstellend sind, wurden mit der Errichtung der internationalen Kriegstribunale Signale gesetzt: Kriegsverbrechen bleiben nicht ungeahndet. Damit stellt man allerdings nur Teilgerechtigkeit her. Rechtsprechung hat ihre Grenzen. Für den Weg zu einer gerechten Gesellschaft in Nachkriegsregionen müssen Rechtsinstrumente durch alternative Modelle zur Gerechtigkeitsfindung ergänzt werden. Bemühungen um Frieden und Gerechtigkeit von lokalen, internationalen, staatlichen und vor allem zivilgesellschaftlichen Akteuren zum Beispiel in Ex-Jugoslawien werden erst Erfolg haben, wenn eines Tages der Schrecken über die Verbrechen der eigenen Seite die Schamgrenzen aufsprengt.

NEIN

Hans-Christian Schmid, 44, Regisseur, drehte „Sturm“ über das Jugoslawientribunal

Natürlich bin ich ein vehementer Befürworter internationaler Strafjustiz. Die Aussicht, dass Diktatoren und Kriegsherren in Zukunft mit der Vorstellung leben müssen, sich vor einem internationalen Strafgericht für ihre Taten verantworten zu müssen, halte ich für einen großen Fortschritt. Umfassende Gerechtigkeit kann so ein Gericht aber nur herstellen, wenn auch die Rahmenbedingungen des Verfahrens stimmen. Das Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien, um das es ja auch in unserem Film „Sturm“ geht, steht unter großem Zeitdruck, weil die Vereinten Nationen keine weiteren finanziellen Mittel aufbringen und das Mandat des Tribunals nicht über 2010 hinaus verlängern wollen. Somit bleibt vor allem die Wahrheitsfindung auf der Strecke, denn die Ankläger werden von den Richtern angehalten, bestimmte Punkte erst gar nicht in die Anklagen aufzunehmen. „Es gibt keine Gerechtigkeit à la carte“, hat Carla del Ponte, die ehemalige Chefanklägerin des Jugoslawientribunals, gesagt. Man kann nicht einfach die Augen vor bestimmten Vergehen verschließen, weil deren Aufarbeitung nicht mit dem straffen Zeitplan des Gerichts vereinbar ist. Vor allem aus der Sicht der Opfer solcher Taten ist diese Art von selektivem Vorgehen völlig unakzeptabel. Das Tribunal läuft damit Gefahr, den guten Ruf, den es sich in den ersten fünfzehn Jahren seines Bestehens aufgebaut hat, zu verspielen.

Eberhard Schultz, 66, ist Jurist in Berlin (menschenrechtsanwalt.de)

Die Tribunale von Den Haag sonnen sich gern im Ruhm der Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg gegen NS-Führer und -Organisationen. Dabei leidet der Internationale Strafgerichtshof an einem Geburtsfehler: Das Statut von Rom sieht zwar die Bestrafung vieler Verbrechen im Krieg vor, nicht jedoch das Verbrechen des Angriffskrieges. Obwohl es in einer viel zitierten Passage eines Nürnberger Urteils heißt: Die Entfesselung eines Angriffskrieges ist nicht nur ein internationales Verbrechen, sondern das größte internationale Verbrechen, was sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, dass es in sich alle Schrecken vereinigt und anhäuft. So musste die Invasion in den Irak 2003 unter Führung der USA straflos bleiben, obwohl das Bundesverwaltungsgericht am 21. Mai 2008 sogar die Gewährung von Überflugrechten als Unterstützung eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges wertete. Ich teile also die kritische Bewertung der bisherigen internationalen Kriegsverbrecherjustiz durch den kanadischen Völkerrechtler, Professor Michael Mandel: Sie lässt die Amerikaner nicht nur mit Mord durchkommen, sondern auch mit dem schwersten Völkerrechtsverbrechen, und bestraft nur die Verbrechen der amerikanischen Feinde – auch wenn diese lediglich die unausweichliche Folge jenes größten Verbrechen sind, das „in sich alle Schrecken vereinigt“. Es bleibt also noch viel zu tun zur Überwindung aller Formen von Siegerjustiz in der internationalen Strafgerichtsbarkeit.

Norman Paech, 71, ist emeritierter Professor für Völkerrecht und Politiker bei der Linken

Die Internationale Strafgerichtsbarkeit (ICC) ist ein notwendiges Instrument gegen Kriegs- und Menschheitsverbrechen! Das Internationale Jugoslawientribunal (ICTY) ebnete diesen Weg – und tappte sofort in die Falle, vor der der US-Ankläger Telford Taylor 1946 gewarnt hatte: Siegerjustiz. Man kann von keinem Gericht verlangen, dass es vom ersten Tag an perfekt funktioniert. Aber das ICTY machte von dem Zeitpunkt an deutlich, dass diese Art Strafjustiz keinen Beitrag zu Versöhnung, Frieden und Gerechtigkeit beitragen kann, als er sich weigerte, auch die Kriegsverbrechen der Nato zu verhandelt. Eine Strafgerichtsbarkeit ist nur dann glaubwürdig, wenn sie jeden Verdächtigen, unabhängig von Herkunft oder Staat, vor Gericht bringt. Leider schreckt der ICC zwar vor afrikanischen Herrschern nicht zurück, aber gegen US-amerikanische, englische oder israelische Verdächtige mag er nicht vorgehen.