Teufel an der Wand

Je näher Boris Johnson der Macht in Großbritannien kommt, desto stärker werden die Vorurteile der Pro-Europäer ihm gegenüber. Es braucht bessere Verständigung

Von Dominic Johnson

Die Stunde der Vereinfacher hat geschlagen. Boris Johnson gilt dieser Tage als die ultimative Katastrophe. Frankreichs führendes Meinungsblatt Le Monde unterstellt dem Favoriten auf die Nachfolge Theresa Mays als britischer Premierminister „Chauvinismus“, „Demagogie“, „Populismus“, „Prinzipienlosigkeit“ und „Lügen“ und erklärt ein von ihm regiertes Großbritannien in bizarrer Mittelalterlichkeit zu einem „feindlichen Fürstentum“. Die „Tagesschau“ kommt in kaum einem Johnson-Bericht ohne das hochnäsige Urteil „realitätsfern“ aus, so als sei die ARD die Hüterin der britischen Realität, und sie weiß auch ganz gewiss, dass ein Premierminister Johnson Großbritanniens Probleme vergrößern werde. Schlichtere Gemüter ziehen Schlüsse daraus, dass Boris Johnsons Haarfarbe an die Donald Trumps erinnert, und aus seinem Hang zum spontanen Wort. Ein Trump am Ärmelkanal – der linksliberale Konsens, der die EU grundsätzlich für die Quelle alles Guten in Europa erklärt, hat sein Urteil längst gefällt, und da kann Johnson nichts machen. Man baut ein Zerrbild von ihm auf, und wenn er dem Klischee nicht entspricht, weil es nicht stimmt, nennt man ihn einen Opportunisten.

Man muss Boris Johnson nicht für den bestmöglichen Premierminister Großbritanniens halten, um diese Art von Oberflächlichkeit und Vorurteil als Bankrotterklärung der europäischen Öffentlichkeit zu erkennen. Sie verrät nichts über die politische Lage Großbritanniens, aber viel über so manche europäische Kommentatoren.

In der Sache basieren die vernichtenden Urteile über Boris Johnson momentan darauf, dass er einen No-Deal-Brexit nicht ausschließen will, auf einen termingerechten britischen EU-Austritt pocht und ein Zurückhalten der im bestehenden Brexit-Deal geregelten britischen Zahlungen an die EU als Druckmittel in Aussicht gestellt hat. Wer diese Stellungnahmen verurteilt, sollte sich aber im Klaren sein, dass kein konservativer Politiker in Großbritannien nach den traumatischen Erfahrungen mit Theresa May ernsthaft einer weiteren Brexit-Verschiebung zustimmen kann. Zumal die EU bei jeder Gelegenheit betont, dass sie den Deal sowieso nicht nachzuverhandeln gedenkt. Und wenn der Deal scheitert, sind auch seine finanziellen Aspekte hinfällig.

Die kaum verhüllte Erwartung zahlreicher EU-Freunde ist, dass die Briten sich irgendwann „besinnen“, wie es so schön heißt, und den Brexit wieder absagen. Wie so oft erweist sich auch in diesem Szenario, dass die eifrigsten EU-Enthusiasten am wenigsten von der Realität verstehen. Eine Abkehr vom Brexit würde Großbritannien in eine Verfassungskrise stürzen, wie sie das Land lange nicht gesehen hat. Wenn eine Volksabstimmung, eine Parlamentswahl und mehrere deutliche Bestätigungen des Referendumsergebnisses im Parlament nicht ausreichen, um eine politische Entscheidung auch umzusetzen, verlieren die Institutionen ihre Legitimität – ein Problem, vor dem übrigens auch Jeremy Corbyn stehen wird, sollte er jemals Wahlen gewinnen und sein Programm umsetzen wollen. Der Europawahlsieg der Brexit Party von Nigel Farage wenige Wochen nach ­deren Gründung sollte jedem die Augen dafür geöffnet haben, wie gering die ­Parteienbindung in Großbritannien noch ist und wie groß der Hang zur Revolte. Darauf mit einer Absage des Brexit zu reagieren statt mit seiner Umsetzung, ist völlig unlogisch.

Es wird in wenigen Wochen einen neuen Premierminister in Großbritannien geben, Boris Johnson oder Jeremy Hunt, deren Positionen übrigens gar nicht weit auseinanderliegen. Es wird in wenigen Monaten auch eine neue EU-Kommission in Brüssel ­geben. In dieser Situation kann Mays Deal nicht das letzte Wort zum Brexit gewesen sein.

Vorurteile und Verteufelungen verhindern lediglich die nötige Verständigung. Und eine dauerhafte Verständigung wird es nur mit einer selbstbewussten und handlungsfähigen britischen Regierung geben.