Die Anti-Debatte

Die TV-Debatte der Istanbuler Bürgermeisterkandidaten wurde
mit Spannung erwartet. Sie enttäuschte aber, weil Harmonie wichtiger war als Diskussion

Zuschauer*innen sehen sich am 17. Juni in Antalya die Debatte zwischen İmamoğlu und Yıldırım an. Es ist das erste TV-Duell in der Türkei seit 17 Jahren Foto: dpa

Von Ali Çelikkan
und Volkan Ağar

Zwei Kandidaten für ein politisches Amt konfrontieren sich im Fernsehen. So etwas hat es in der Türkei seit 17 Jahren nicht gegeben. Die Erwartungen waren deshalb hoch. Zumal der Moderator kein Regierungsanhänger war. Viele Themen würden frei zur Sprache kommen. Das dachte man zumindest. Die Kandidaten würden versuchen, mit ihren Antworten ihren Rivalen auszustechen und Wähler*innen zu überzeugen, bei der Istanbul-Neuwahl am 23. Juni für sie zu stimmen.

Doch das TV-Duell zwischen Ekrem İmamoğlu und Binali Yıldırım wurde zur Enttäuschung für das Publikum. Und es bestätigte einmal mehr: In der extrem polarisierten türkischen Politik existiert keine Debattenkultur mehr.

Die Diskussion drehte sich ständig im Kreis. Das lag auch an dem Format, das man strenger und restriktiver nicht hätte gestalten können. Die Kandidaten sollten in jeweils drei Minuten Fragen beantworten, die ihnen der Moderator stellte. Miteinander durften sie nicht sprechen – bis auf eine Ausnahme, als sie einander mit Erlaubnis des Moderators jeweils eine Frage stellen durften.

Jeder Kandidat betete seine Wahrheit herunter

Kaum bemühten sie sich um Dialog, griff der Moderator ein. Es fielen gegenseitige Anschuldigungen über die Gründe der Annullierung der Wahl vom 31. März. Und es gab Verschwörungstheorien darüber, wie der Moderator ausgewählt und die Fragen vorbereitet worden waren. Keine der Detaildiskussionen kam wirklich zu einem Schluss.

Jede Antwort wurde für sich stehen gelassen. Jeder klammerte sich an seine eigene Realität, niemand wurde angegriffen, niemand blamierte sich, niemand unterlag. Die Kandidaten stritten nicht um die Wahrheit, jeder hatte seine Wahrheit und betete sie einfach herunter.

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„Herr Binali Yıldırım, standen Sie je in Verbindung zur Gülen-Terrororganisation?“, fragte Moderator Ismail Küçükkaya. „Nein, nein“, entgegnete Yıldırım. Schön. Es ging ohnehin einfach nur darum, diese Frage zu stellen, damit man sie gestellt hatte. Unter den gegebenen Bedingungen war das schon viel. Bei dieser „Debatte“ war es ohnehin undenkbar, Fragen wie „Aber Sie standen bei der Beerdigung des Bruders von Fethullah Gülen doch in der ersten Reihe?“ oder „Bei der Türkisch-Olympiade hatten Sie doch Gülen Sympathie und Respekt gezollt“ hinterherzuschieben. Solche Fragen hätten Reibung und Widerspruch verursachen können. Um einer neutralen Moderation willen wurde auf kritischen Umgang verzichtet. Der Moderator fragte, hakte aber nicht nach.

„Falls Sie zum Bürgermeister gewählt werden“, begann eine Frage, und Ekrem İmamoğlu sagte nicht: „Ich bin ja gewählt, wurde aber wieder abgesetzt.“ Denn das hätte dem Geist der moderaten Diskussion ebenso widersprochen wie İmamoğlus Prinzip, „jeden zu umarmen“, wie er es im Wahlkampf immer wieder formuliert.

Immerhin: Im Gegensatz zum AKP-Kandidaten Yıldırım sprach İmamoğlu leidenschaftlich, mit ausdrucksstarker Gestik und Mimik, stets die ihm gegebenen drei Minuten ausschöpfend, stets fordernd, stets mit Blick nach vorn. Das verschaffte İmamoğlu in dieser Diskussion, in der man sich entweder in Details verlor oder mit Floskeln um sich warf, zumindest einen Vorteil gegenüber seinem Rivalen.

Zudem versuchte İmamoğlu im Gegensatz zu Yıldırım Stimmen der anderen Seite zu gewinnen. Er sprach AKP-An­hänger*innen direkt an. Er versuchte ihnen und ihrer Lebenswelt Zugeständnisse zu machen, zu demonstrieren, dass er zwar ein Kandidat der republikanischen und lai­zistischen Atatürk-Partei ist, ihre religiösen Befindlichkeiten aber trotzdem ernst nimmt.

Deshalb sprach er von Wohnheimen und Schwimmbädern mit Geschlechtertrennung und von kommunalen Einrichtungen ohne Alkoholausschank. Yıldırım wirkte dagegen so, als gehe es um nichts.

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Wäre es der AKP und Yıldırım tatsächlich darum gegangen, unentschiedene Wäh­ler*innen oder jene für sich zu überzeugen, die bei dem letzten Durchgang für İmamoğlu gestimmt hatten, hätte ein bisschen Selbstkritik gutgetan. Yıldırım sagte aber: „Bescheidenheit ist nicht angesagt.“ Mit seiner monotonen Stimme, dem ausdruckslosen Blick und seiner überraschenden, aber nicht souveränen Gelassenheit wirkte er wie ein desinteressierter, unwilliger Roboter, der an der TV-Debatte nur teilnimmt, weil es ihm jemand befohlen hatte.

Niemand gewann, niemand unterlag

Yıldırıms Anwesenheit hatte nicht zum Ziel, irgendjemanden zu überzeugen. Es ging ihm lediglich darum, sich nicht zu blamieren. Was ihm bis auf ein paar kleine Ausrutscher auch gelang. „Hängen wir uns nicht am 31. März auf“, sagte er. Denn vermutlich war es nicht er selbst, der das Wahlergebnis nicht anerkannt hatte. Yıldırım hatte den 31. März so wenig zu verantworten wie die neue Strategie seiner Partei, die jetzt vor der Wiederholung der Wahl am 23. Juni eher mäßigend und zurückhaltend auftritt.

Warum also sollte sich Yıldırım diesen Schuh anziehen? So antwortete er, wo es ihm passte. Wo es nicht passte, entzog er sich. Aber meistens machte er es sich so leicht es geht und zählte einfach vergangene Maßnahmen und vermeintliche Errungenschaften der AKP auf. Er las ab, was auf seinen Papieren stand.

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Am Ende bat Moderator İsmail Küçükkaya die Teilnehmer um Feedback: „Wie war ich?“ Diese sonderbare Frage war der letzte Beweis dafür, dass die Debattenkultur in der Türkei tot ist. Nicht die Leistung der Politiker wurde bewertet, sondern die des Moderators. Das Überbleibsel an freier Meinung und Diskussionskultur nach Jahren systematischer Repression erlaubte nur dies: eine kontrollierte Sendung, ein hübsches Bild, das den Zuschauer*innen nicht den Abend verderben sollte. Niemandem wurde wehgetan. Vor allem aber: Niemand gewann und niemand unterlag.

Deshalb wird sich diese Debatte auch nicht auf die Wahl am Wochenende auswirken. Vielleicht war es gar nicht das Ziel der Veranstaltung, unentschlossene Wäh­ler*innen anzusprechen. Vielleicht war es das eigentliche Ziel dieser Veranstaltung, Legitimation für die unrechtmäßige Wiederholung einer eigentlich schon entschiedenen Wahl zu schaffen. Vielleicht sollte einfach der Eindruck erweckt werden, die bevorstehende Wahl sei so normal wie jede andere Wahl. Oder sogar noch normaler als normale Wahlen: fairer, zivilisierter, demokratischer.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe