Rechtsradikaler unter Mordverdacht: Der unauffällige Typ von nebenan

Einst war Stephan E. als militanter Neonazi polizeibekannt. Dann geriet er in Vergessenheit. Nun ist er des Mordes tatverdächtig.

Einfamiliernhaus im Grünen mit spitzem Dach

Gut bürgerlich: Der bisherige Wohnsitz von Stephan E. in Kassel Foto: dpa

KASSEL/BERLIN taz | Reiner Weidemann ist noch immer fassungslos. Seit neun Jahren traf er Stephan E. im Schützenverein. „Ein Ruhiger, ein Zuverlässiger“, sei der gewesen, erzählt Weidemann, der Vereinschef. E. war Verantwortlicher für das Bogenschießen, ein Familienvater. „Immer, wenn was zu machen war, hat er es gemacht. Der ist nie aus der Reihe getanzt.“

Und nun das. Stephan E., der Mörder von Walter Lübcke, dem CDU-Politiker, dem Regierungspräsidenten von Kassel?

„Ich kann das noch nicht realisieren“, sagt Weidemann. Aber gut, sagt der Vereinschef, „man kann nicht in den Kopf gucken.“

Es ist diese Fassungslosigkeit, die man jetzt vielerorts in Kassel hört. Anfang Juni wurde Lübcke vor seinem Haus im kleinen Dorf Wolfhagen-Istha erschossen, unweit von Kassel, mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe, wie eine Hinrichtung. Und seit dem Wochenende nun sitzt dafür Stephan E. in Haft, 45 Jahre, zwei Kinder. Ein Rechtsextremer, sagt die Bundesanwaltschaft, der seine Tat wohl aus einem rechtsextremistischen Motiv verübt habe. Eine DNA-Spur, ein Hautpartikel an der Kleidung Lübckes, habe ihn überführt.

Haus mit Spitzgiebel, kurz gemähter Rasen

Die Polizei rückte bei Stephan E. in der Nacht zum Samstag an, mit Spezialkräften, in einer ruhigen Straße ganz im Osten Kassels, in Lohfelden. Fotos zeigen ein weißes Haus mit Spitzgiebel, einen grünen Garten, kurzgemähter Rasen. Nachbarn berichten nun, dass Stephan E. dort unauffällig gelebt habe, seit etwa 14 Jahren schon. Als Handwerker habe er gearbeitet, im Schichtdienst, ab und an an Autos geschraubt. Alles harmlos.

Aber ist das wirklich alles? Kann das sein, dass dieser Stephan E. wie aus dem Nichts zum Mörder wurde? Oder war er nicht, bis zum Schluss, doch mehr in die rechtsextreme Szene eingebunden als bisher bekannt?

Am Mittwochmittag tritt in Berlin die oberste Riege des Sicherheitsapparats vor die Presse: Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der Chef des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang. Es ist ein Signal: Der Fall Lübcke ist auf höchster Ebene angekommen. Aber es ist ein spätes Signal.

Lange ließ das ermittelnde Landeskriminalamt Hessen mitteilen, im Fall Lübcke gebe es keine Hinweise es auf ein politisches Motiv. Dieses wurde eher im privaten Bereich vermutet. Noch am Vortag, als die Bundesanwaltschaft den Fall schon übernommen hatte, ließ Seehofer ausrichten, man wolle sich nicht an Spekulationen beteiligen.

Horst Seehofer spricht von einem Alarmsignal

Heute aber sagt Seehofer, er sei „tief schockiert“ von der Tat. Der Minister kritisiert die „abscheulichen und widerwärtigen“ Kommentare über das Opfer in sozialen Netzwerken, welche die Verrohung der Gesellschaft deutlich machten. Die Tat sei ein „Alarmsignal“, sie richte sich gegen den freiheitlichen Staat, „gegen uns alle“. „Wir müssen den Rechtsex­tremismus verdammt sehr, sehr ernst nehmen.“

BKA-Chef Münch versichert, man ermittele „mit Hochdruck“, auch er warnt vor der Gefährlichkeit des Rechtsextremismus. „Wir werden unsere Analysearbeit weiter verbessern müssen.“ Und auch Verfassungsschutzchef Haldenwang kündigt an, seine Rechtsextremismus-Abteilung weiter auszubauen. Er verweist aber auch auf 12.700 gewaltbereite Rechtsextremisten, die sein Amt bundesweit derzeit zähle. „Es ist schier unmöglich, diese Personen rund um die Uhr im Blick zu haben.“

Heute aber scheint klar: Stephan E. hätten die Sicherheitsbehörden auf dem Blick haben sollen. Aber hatten sie überhaupt eine Chance dazu?

Denn 2009 verschwand Stephan E. von ihrem Radar, wie Haldenwang und Münch einräumen. Er sei von diesem Zeitpunkt an politisch nicht mehr in Erscheinung getreten, auch strafrechtlich nicht. Zehn Jahre – bis zu seiner Festnahme.

rotes Backsteinhaus mit undurchsichtigen Fenstern

Gut abgeschlossen: Der derzeitige Aufenthaltsort von Stephan E., das Gefängnis Kassel I Foto: dpa

Brandstifter, Messerstecher: Die Karriere des Neonazis

Aber Stephan E. hat eine Vorgeschichte. Von „einer Latte an Vorstrafen“ spricht Münch. Schon 1989, als 16-Jähriger, soll E. ein Haus in Hessen in Brand gesetzt haben. Nach weiteren Straftaten folgt 1992 ein versuchter Totschlag, wie die Staatsanwaltschaft Wiesbaden bestätigt: In einer öffentlichen Toilette in Wiesbaden sticht E. mit einem Messer einen Migranten nieder. Der Mann überlebt. Er habe den Eindruck gehabt, das Opfer habe ihn anmachen wollen, sagte E. später vor Gericht. Das habe ihn „angeekelt“. Als besonders belastend habe es der Angeklagte empfunden, dass es sich bei dem Opfer um einen Ausländer handelte, hielt das Gericht fest. Stephan E. aber machte weiter. Nur ein Jahr später parkte er ein Auto mit einer Rohrbombe vor eine Asylunterkunft im hessischen Hohenstein-Steckenroth, zündete es an. Ein Bewohner konnte den Brand rechtzeitig löschen. Stephan E. wird dafür, und für die Messertat in Wiesbaden, zu sechs Jahren Haft verurteilt. Und macht weiter. Noch in U-Haft attackiert er einen Mitinsassen, einen Migranten, schlägt ihm mit einem eisernen Stuhlbein auf den Kopf.

Es ist eine Zeit, in der Stephan E. von den Sicherheitsbehörden als rechtsextremer Gewalttäter geführt wird, in der er als „extrem gewalttätig“ und impulsiv gilt. Und er bleibt der Szene treu. 2003, nach seiner Haftstrafe, sieht man ihn auf einer rechtsextremen Kundgebung in Kassel, mit kurzen Haaren, auf seine Jacke hat er einen NPD-Aufkleber geklebt.

Fester Teil der Kasseler Szene sei Stephan E. damals gewesen, im Kreis der NPD und der „Autonomen Nationalisten“, aber auch mit Kontakten zu örtlichen Vertretern des militanten „Combat 18“-Netzwerks, so erinnern sich lokale Beobachter. Kirsten Neumann vom Mobilen Beratungsteam (MBT) Kassel erlebte Stephan E. 2007 hautnah: Bei einer ihrer Veranstaltung sei er mit anderen Neonazis aufgetaucht, habe vor der Tür gestört. Es kam zu Handgreiflichkeiten, Neumann rief die Polizei. „Das war eine ernste Situation“, erinnert sie sich. Aber auch Neumann sagt: Nach 2009 sei Stephan E. von der politischen Bildfläche verschwunden.

Es war am 1. Mai 2009, als E. noch einmal auffällig wurde. In Dortmund attackierten mehr als 300 Neonazis eine DGB-Kundgebung, mit Flaschen und Holzstangen. Stephan E. ist dabei. Und wird noch einmal verurteilt: zu sieben Monaten auf Bewährung. Dann zieht er sich zurück. Scheinbar.

Was geschah in den letzten zehn Jahren?

Es ist nun die Hauptaufgabe der Ermittler, das herauszufinden: Was trieb Stephan E. in den vergangenen zehn Jahren? War die Unauffälligkeit, im perfidesten Fall, nur Fassade, um das Attentat ungestört vorzubereiten? Man schaue nun auf das Umfeld, in dem sich E. bewegte, sagt BKA-Chef Münch. Was habe ihn zur Tat getrieben? „Das treibt uns genauso um.“

Es gibt Hinweise zumindest auf ein Doppelleben von Stephan E. in jüngerer Zeit. NDR und Süddeutsche berichten, die Ermittler hätten inzwischen zahlreiche Hetzkommentare von ihm auf sozialen Netzwerken im Internet entdeckt, vor allem bei YouTube. Dort soll er noch 2018 unter dem Alias „Game Over“ geschrieben haben: „Entweder diese Regierung dankt in Kürze ab oder es wird Tote geben.“ An anderer Stelle habe er geschrieben: „Schluss mit Reden es gibt tausend Gründe zu handeln und nur noch einen ‚nichts‘ zu tun, Feigheit.“ Festgestellt haben sollen die Sicherheitsbehörden diese Botschaften erst jetzt – nach dem Tod Lübckes.

Die rechtsextreme Szene in Kassel jedenfalls blieb zuletzt aktiv. Besonders umtriebig war dort in den vergangenen Jahren Kagida, ein Pegida-Ableger. Auch dort wurde gegen Geflüchtete gehetzt, laut Kirsten Neumann wurde auf deren Webseite auch ein Video von Walter Lübcke geteilt, eines, das bundesweit Furore in der rechten Szene machte.

Auf einer Bürgerversammlung 2015 hatte Lübcke sich offensiv zur Aufnahme von Geflüchteten bekannt. Wer mit dieser Hilfsbereitschaft nicht einverstanden sei, könne das Land ja verlassen, sagte der CDU-Mann. Ein Video des Auftritts kursierte danach bundesweit, Lübcke wurde massiv von Rechtsextremen bedroht.

Die Bürgerversammlung fand damals in Kassel statt, genauer: in Lohfelden, dem Wohnort von Stephan E. Ob dieser damals vor Ort war, beantworten die Sicherheitsbehörden bisher nicht. Es könnte aber Teil einer Antwort sein, warum ausgerechnet Walter Lübcke zum Mordopfer wurde. In diesem Frühjahr jedenfalls kursierte das Video von Lübckes Auftritt wieder in der rechten Onlineblase.

Und offen bleibt auch, ob E. nicht doch Kontakt zum „Combat 18“-Netzwerk hielt. Auch hessische Mitglieder nahmen zuletzt an Schießtrainings in Tschechien teil. Die Sicherheitsbehörden aber lassen die Gruppe bisher weitgehend unangetastet. Nun fällt es ihnen womöglich auf die Füße. Bisher gebe es keine Hinweise auf Mittäter, heißt es aus der Bundesanwaltschaft.

Keine spontane Tat

Klar aber ist: Es muss eine genaue, längere Vorbereitung der Tat gegeben haben. Denn der Täter schlug genau dann zu, als im kleinen Istha eine Dorfkirmes stattfand, er unter den Feiernden also nicht weiter auffiel. Und er besorgte sich für seine Tat eine Waffe. Im Schützenverein habe Stephan E. keinen Zugang zu Waffen gehabt, versichert deren Vorsitzender Reiner Weidemann. Dies sei nur wenigen Mitgliedern gestattet und er habe nach der Festnahme extra nachgeschaut: Es fehle keine Waffe.

BKA-Chef Münch betont, dass Stephan E. keinen Waffenschein besessen habe. Gleichzeitig aber sei die Tatwaffe bis heute verschwunden.

In Kassel bleibt derweil Ratlosigkeit. Die Stadt sei „traurig, aber auch wütend und zutiefst erschüttert über dieses unfassbare Verbrechen“, sagt Bürgermeister Christian Geselle (SPD). Aber auch, dass die Tat noch nicht vollständig aufgeklärt sei. „Auch wenn viele Menschen und gerade die Medien nach schnellen Antworten suchen, sollten wir besonnen bleiben und das laufende Ermittlungsverfahren abwarten.“

Stephan E. ist dabei keine Hilfe: Er schweigt zu den Vorwürfen.

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