Die Kunst eines ganzen Lebens

Pionier der Moderne: Emil Pirchan, Gestalter und Theatervisionär, wurde von seinem Enkel neu entdeckt und in einem Buch vorgestellt

Aus der Reihe tanzt der Entwurf für ein Theater neuen Typs in Südamerika, ein Ufo mit Kuppelhorizont über dem Bühnenraum von Emil Pirchan, Modellrekonstruktion 2017 Foto: Rupert Steiner

Von Bettina Maria Brosowsky

Hatte man sich zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum Überraschungen erhofft, unbekannte, vergessene, endlich einmal gehobene Lebenswerke, so wird man enttäuscht. Wohl nur das Landesmuseum Oldenburg ist das Wagnis eingegangen, vier lokalen Bauhäuslern nachzuspüren und kann nun mit Werk und Biografie des aus Aurich gebürtigen US-amerikanischen Designers und Pädagogen Hin Bredendieck einen gewichtigen Fund verzeichnen. Möglich wurde dies durch den mehrjährigen vertrauensvollen Austausch mit den Angehörigen, die 2018 den Nachlass übergaben.

Etwas leichter wird die Rekonstruktion eines partiell verschütteten Lebenswerks, wenn sich ein Familienmitglied selbst der Sache annehmen und auf dem sprichwörtlichen Dachboden endlich die Kisten mit über 1.300 Originalskizzen, 1.500 Drucken, Skizzenbüchern und einer Bibliothek aus 2.000 Bänden, den Nachlass des Großvaters, inspizieren darf. Beat Steffan heißt der Glückliche, der in seinem Zürcher Elternhaus tätig wurde. Seit 2015 setzt er das Puzzle des Lebenswerkes von Emil Pirchan (1884–1957) zusammen, eines im besten Sinne Universalkünstlers in der Tradition des k. u. k. Gesamtkunstwerkes Österreich-Ungarns, das alle Dinge des Alltags, mithin das ganze Leben, künstlerisch zu durchdringen trachtete.

Pirchan, Generation des Bauhausgründers Walter Gropius, ist kein Unbekannter, Belege seines Schaffens finden sich in renommierten Spezialsammlungen wie dem Österreichischen Theatermuseum, der Wiener Albertina oder der Plakatsammlung des Folkwang Museums. Auch seine belletristischen wie monografischen Schriften, so zu Gustav Klimt, Otto Wagner oder Fanny Elßler, sind antiquarisch greifbar. Aber es fehlte die synthetisierende Zusammenschau, die der 2018 erschienene opulente Band nun bietet, Steffan versicherte sich dazu umfangreicher fachspezifischer Expertise. Eine erste große Ausstellung folgte im Folkwang Museum Essen, weitere sind an Pirchans Wirkungsstätten geplant.

Emil Pirchan wuchs, wie jeder „echte“ Wiener, in Brünn auf, die Verhältnisse waren großbürgerlich. Der Vater ein bekannter Porträtmaler, galt Pirchans Interesse früh dem Zeichnen und Schreiben, mehr noch dem Thea­ter. 1903 bestand er die Aufnahmeprüfung für einen der raren Studienplätze an der Wiener Spezialschule für Architektur unter Otto Wagner, der gerade mit der Stadtbahn die technische Infrastruktur für die „unbegrenzte Großstadt“ geschaffen hatte. Wagners Diktum, dass etwas Unpraktisches nicht schön sein kann, beherzigte auch Pirchan, ebenfalls Wagners umfassende Sicht auf politische, soziale, hygienische und ästhetische Facetten des modernen Lebens.

Pirchans verhaltene Architekturentwürfe blieben zumeist Papier, wenngleich veröffentlicht. Aus der Reihe tanzt der Entwurf für ein Theater neuen Typs in Südamerika, ein Ufo mit Kuppelhorizont über dem Bühnenraum und formalen Art-déco-Anklängen, wohl aus den Jahren um 1930 – da war Pirchan längst ein international gefeierter Bühnenbildner. Vorher aber legte er noch eine Karriere als Grafiker hin, nachdem er 1908 in der Hochburg der Plakatkunst, München, sein Atelier eröffnet hatte.

Ganz selbstbewusst bot er neben Gebrauchsgrafik auch Bühnen- und Raumkunst sowie „Hausbau“ an. Pirchans im Entwurf teils collagierte Grafik ist pure, leuchtende Farbigkeit in flächiger Geometrie, sie mutet zeitgeistig und wienerisch secessionistisch an, die Typografie bleibt ornamental. Es bedurfte wohl erst eines Zeitgenossen wie Kurt Schwitters, der in den 1920er Jahren die Disziplin dann radikal zu erneuern vermochte.

Radikal, für die damalige Aufführungspraxis geradezu revolutionär, wirkte Pirchan als Bühnenbildner und Theatervisionär. Mit dem Berliner Intendanten Leopold Jessner fegte er den Theaterplunder von der Bühne, setzte dem illusionistisch naturalistischen „Meiningertum“ die extreme Stilisierung, das beschleunigte Spieltempo und ein spartanisches Bühnenbild aus Treppen, Podesten, symbolischer Farbigkeit und strukturierender Lichtregie oder auch fotografischer Projektion entgegen.

Mit Leopold Jessner fegte er den Theaterplunder von der Bühne

Eine „Wilhelm Tell“-Inszenierung geriet 1919 noch zum Skandal, im „Othello“ von 1921 würdigte dann auch die Kritik das Ansinnen, die pure „Essenz“ des Stückes auf die Bühne gebracht zu haben. Pirchan arbeitete für die Berliner und Wiener Oper sowie das Prager Nationaltheater, beteiligte sich 1927 an der Magdeburger Theaterausstellung, übernahm 1931 eine Professur für Bühnenbild in Prag und ging 1936 nach Wien.

Lehrtätigkeiten in Bühnenbild, Modellbau und Kostüm­entwurf ermöglichten ihm das Überwintern auch nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland, die „amusischen Zeitläufte“, so Pirchan, begannen. Seine politische Haltung lässt sich wohl nicht mehr genau rekonstruieren: War er apolitisch, ausschließlich an seiner künstlerischen Arbeit interessiert, hat er sich mit den Verhältnissen arrangiert? Wohl auch spürend, dass seine große Zeit als Bühnenbildner bereits Vergangenheit war, widmete er sich verstärkt dem Publizieren, Fachartikel, Monografien und Romane entstanden.

1950 erhielt er eine ordentliche Professur an der Wiener Akademie der bildenden Künste, auch nach seiner Emeritierung 1954 wirkte er dort bis an sein Lebensende weiter. Nun gilt es, den „ganzen Pirchan“, ein dicht verwobenes Œuvre aus Architektur, Interieur, Bühne, Grafik und Publizistik neu zu entdecken.

Beat Steffan (Hg.): „Emil Pirchan. Ein Universalkünstler des 20. Jahrhunderts“. Nimbus Verlag, Wädenswil am Zürichsee 2018, 368 S., 44 Euro