Kommentar Zivilgesellschaft in Russland: Wut auf den Straßen

In Russland scheint die Zivilgesellschaft stärker zu werden, während Putins Apparat schwächelt. Aber hat die Bewegung eine Chance?

Eine Person hält auf einer Demo eine russische Zeitung vor ihr Gesicht

Pro-Golunow-Demo in St. Petersburg Foto: imago images/ITAR-TASS

So viel Euphorie in Russland ist selten, wenn die UntertanInnen mal nicht im Auftrag des Staats jubeln müssen. Als „Sieg der Zivilgesellschaft“ werten einige Beobachter dieser Tage den glimpflichen Ausgang der Causa Iwan Golunow. Allerdings taugt dieses Beispiel nur bedingt zu derart optimistischen Einschätzungen.

Zugegeben: Dass die Anklage gegen den Moskauer Investigativjournalisten, der des Drogenbesitzes beschuldigt worden war, schnell wieder in der Versenkung verschwand, selbiger auf freien Fuß kam und noch dazu zwei hochrangige Polizeichefs abserviert wurden, ist in der gelenkten Demokratie von Dauerherrscher Wladimir Putin schon bemerkenswert. Dabei sind alle diese Entscheidungen mit dem Begriff Willkür hinreichend beschrieben.

Mindestens genauso bemerkenswert sind jedoch auch bestimmte Begleitumstände des Falls, die bekannten Mustern folgen. Eine Anklage wegen vermeintlichen Drogenbesitzes, so absurd sie sein mag, erscheint offensichtlich immer noch als probates Mittel, um unbequeme VolksgenossenInnen aus dem Verkehr zu ziehen. Man denke nur an den tschetschenischen Menschenrechtler Ojub Titijew, der im vergangenen März wegen Drogendelikten zu vier Jahren Straflager verurteilt wurde, in wenigen Tagen jedoch unter Auflagen aus der Haft entlassen werden soll. Auch die Misshandlung Golunows in Polizeigewahrsam gehört in Russland zu den gängigen Umgangsformen mit Beschuldigten. Glücklich schätzen darf sich da noch derjenige, der, wie Golunow, mit ein paar gebrochenen Rippen davonkommt.

Auch bei einer Solidaritätsaktion für den Medienmann am Mittwoch in Moskau walteten die Ordnungskräfte in gewohnter Manier ihres Amtes: Rund 400 Festnahmen – darunter wieder einmal der Blogger und Antikorruptionskämpfer Alexei Nawalny. Dessen Gewährsmann und Aktivist Leonid Wolkow wurde übrigens dieser Tage zu 15 Tagen Haft verurteilt, weil er 2018 in St. Petersburg eine Kundgebung gegen eine Erhöhung des Rentenalters organisiert haben soll.

Angesichts dieser Gemengelage scheint die Freilassung Golunows weniger ein Anzeichen für ein erwachendes Rechtsstaatsbewusstsein bei den Verantwortlichen, als vielmehr ein Versuch zu sein, „Druck aus dem Kessel“ zu nehmen. Und dort dampft es gewaltig. Laut einer Umfrage des staatlich finanzierten Instituts VtsIOM von diesem Mai vertrauen gerade noch 31,7 Prozent der Befragten ihrem „Lider“ Wladimir Putin – der niedrigste Wert seit 2006.

Einfach durchregieren, das war mal

Vor dem Hintergrund, dass sich eine Verbesserung der Wirtschaftslage wie angekündigt nicht einstellen will, können immer weniger RussInnen den kostspieligen Abenteuern des Kreml auf der Krim, in der Ost­ukrai­ne und in Syrien etwas abgewinnen. Ihren wachsenden Unmut tragen die Menschen immer häufiger auf die Straße. Mit überraschendem Ausgang, wie das Beispiel der viertgrößten Stadt Jekaterienburg zeigt. Dort protestierten AnwohnerInnen hartnäckig gegen den Bau einer orthodoxen Kirche in einem beliebten Park. Jetzt wird ein anderer Platz für das Gotteshaus gesucht.

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Die Frage ist nun, ob derartige Erfolgserlebnisse ein punktuelles Ereignis bleiben oder die Zivilgesellschaft ermutigen und insgesamt nachhaltig zu stärken vermögen. Das jedoch würde bedeuten, dass die Staatsmacht künftig mit dieser Größe rechnen muss – nach dem Motto: Einfach durchregieren, das war mal.

Genauso wichtig ist, wie sich das Zusammenspiel innerhalb der Machtstrukturen entwickeln wird. Ist die Vormachtstellung von Putin im Apparat noch so unangefochten, wie er nach innen und außen hin gern glauben machen würde? Oder deutet nicht auch der Fall Golunow darauf hin, dass entscheidende Strippen mittlerweile woanders gezogen werden? Wie dem auch sei: Es bewegt sich etwas in Russland, vorerst ein Lüftchen noch. Ob daraus ein „Wind of Change“ entsteht, wird sich zeigen. Vielleicht schon bald.

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Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.

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