Spiel mit der Realität

In der Reihe „Kookread“ diskutierten Autor*innen über konzeptuelles Schreiben im Netz und virtuelle Schreibidentitäten

Von Annika Glunz

„Das ist doch keine Literatur!“ Mit diesem Ausruf dürften sich viele Autor*innen, die digital arbeiten, oft konfrontiert sehen. Wenn Texte auf einzelne Wörter oder Codes, sogar auf Töne zerlegt und wieder neu zusammengesetzt werden, wenn aus Chatverläufen digitale Collagen entstehen oder Radiosendematerial bis auf kurze Vokale zerschnitten und rhythmisiert wird: Arbeitsweisen, die der analogen Welt des klassischen Literaturbetriebs fremd erscheinen.

Hannes Bajor, Sarah Berger, Christiane Frohmann und Carsten Schneider zeigten an diesem Abend im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Kook­read“ im Acud, dass konzeptuelles Schreiben im Netz sich als Akt künstlerischer Selbstermächtigung sehen lassen kann. Die Autor*innen stellten ihre Arbeiten vor und diskutierten über virtuelle Schreibidentitäten und netzspezifische Aneignungsprozesse.

Für seinen Gedichtband „Halbzeug“ nahm sich Hannes Bajor die Gesammelten Werke Kafkas zur Grundlage, entnahm ihnen über eine Konkordanzsuche bestimmte Textpassagen und fügte sie neu zusammen. Er zeigte auch, dass sich Gedichte hörbar machen lassen: Durch das Lesen ihrer Datenstrukturen mittels eines Audioprogramms. Bei Sarah Bergers Performance „The daughters of the revolution“ waren die Trennlinien zwischen Realität und Fiktion schwer auszumachen. Neben der rein textlichen Arbeit, die ihren Ursprung in Chatverläufen hat und sich – versetzt mit Bildern – zwischen Prosa und Collage ansiedeln lässt, lieferte sie an diesem Abend eine Performance ab, in der sie sich zunächst auszog, um sich anschließend pinkfarbene Klebestreifen über ihre Geschlechtsteile zu kleben – es gab schließlich einen Livestream.

Carsten Schneider sorgte mit seinen Deutschlandfunk-Dekonstruktionen für viele Lacher. Er zerschnitt das Sendematerial nach spezifischen Kriterien zu klangtextlichen Realitätsarrangements. So präsentierte er dem Publikum einen Ausschnitt aus dem insgesamt über eine Stunde dauernden „Atem eines Tages“. Das Publikum bekam neben Verkehrsgefahrensendungen und Inifinitiven auch eine Kostprobe des ein Jahr lang gesammelten jeweils zweiten „n“ des Tages.

Christiane Frohmann verlegt digitale Literatur und ist selbst Autorin des Bild-/Text-Formats „Präraffaelitische Girls erklären das Internet“, in dem aus verschiedenen Blickwinkeln über das Leben und Arbeiten im Internet reflektiert wird. Als Verlegerin hat sie unter anderem eine Reihe herausgebracht, die aus Twitter-Literatur besteht: „Zum Teil ist das Wissenschaft in zwei Sätzen, ich bin einfach sehr beeindruckt davon.“ Allerdings: „Auch die Rechte spielt massiv kreativ mit neuen Medien. Ich kann live und in Echtzeit jedem Popanz dabei zugucken, wie er Verschwörungstheorien produziert.“

Berger merkte an: „Das Digitale, wie wir es nutzen, hat dazu geführt, dass wir es auch glauben.“ Bajor fügte hinzu: „Der Weltzugriff ist durch das Digitale einfach da, der Unterschied liegt in den Ermöglichungsbedingungen.“ Für ihn sei deshalb eine Transparenz in der Produktion seiner Texte unabdingbar. Frohmann brachte einen weiteren Unterschied zwischen digitaler und analoger Autor*innenschaft ins Spiel: „Im Netz ist es möglich, Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit zu simulieren.“ Sie habe irgendwann gemerkt, dass sie nichts mehr als „Ich“ schreiben konnte. Auch Berger fragte sich, wie stark das Spiel mit der Realität in ihrer Arbeit autofiktional sei.

Dennoch, trotz kleiner Dämpfer blieb die Grundhaltung der Anwesenden eine positive. Fest steht: Der Weltzugriff ist da; das Netz birgt ein hohes Selbstermächtigungspotential: „Digitale Literatur ist vor allem eine Literatur der Frauen, Queeren und Migrant*innen“, so Frohmann.