Das Ende der Geschichte?

In Ersan Mondtags „De Living“ am HAU, der neuesten Inszenierung des jungen Theaterstars, die es zur Aufführung in dessen Heimatstadt gebracht hat, bricht eine Frau aus der Wiederkehr des Gleichen aus

Frau im Spiegel ihrer selbst: eine Szene aus „De Living“ Foto: Michiel Devijver

Von Sascha Ehlert

Langsam bilden sich im Wasserhahn die Tropfen, bevor sie in das Becken klatschen: Tock ..., To ..., Tock. Die Zeit dehnt sich und wird nichtig, schaut man so einem Schauspiel nur lange genug zu. Ganz ähnlich verhält es sich mit „De Living“, oder zu Deutsch: „Das Wohnzimmer“, der neuesten Inszenierung von Ersan Mondtag, die es auf eine Berliner Bühne geschafft hat. Nachdem er am Berliner Ensemble und am Gorki inszenierte, hätte zuletzt eigentlich Mondtags dystopische Horrorvision „Das Internat“ beim Theatertreffen gezeigt werden sollen. Das Gastspiel blieb allerdings aufgrund mutmaßlicher „Schwierigkeiten bei der Termin- und Spielstättenfindung“ aus, den 3sat-Preis des Theatertreffens erhielt Mondtag in diesem Jahr dennoch.

Folgerichtig ist das HAU2 zur Deutschland-Premiere von „De Living“ bis auf den letzten Platz gefüllt. Dabei ist die Koproduktion mit dem momentan vom Schweizer Theatermacher Milo Rau geleiteten NT Gent im Vergleich zu einem überbordenden visuellen Spektakel wie „Das Internat“ eine „kleine“ Arbeit: zwei Performerinnen – die Zwillinge Doris und Nathalie Bokongo Nkumu, die bislang vor allem tänzerisch gearbeitet haben –, ein Bühnenbild, eine Soundkulisse, kein Text. Inhaltlich allerdings könnten die Fragestellungen kaum größer sein.

An der Oberfläche erzählt „De Living“ die Geschichte einer Frau am Ende. Sie trinkt, sie vergräbt das Gesicht in den Händen, schließlich legt sie ihren Kopf in den Herd und dreht den Gashahn auf. Während sie auf der rechten Seite der Bühne noch tot liegt, kehrt sie aber bereits auf der linken lebendig zurück. Wir steigen sozusagen zum zweiten Mal in ihr Leben ein, aber diesmal eine Weile vor ihrem Selbstmord, so scheint es zumindest. Da die Frau nicht spricht und in ihrem Wohnzimmer nur Alltägliches erledigt – sich die Nägel lackieren und Schnaps trinken zum Beispiel –, erzählt dieser Abend vor allem über das Bühnenbild und über die Soundkulisse.

Letzterer entnehmen wir ein dystopisches Weltuntergangsszenario: Bombenalarm-Sirenen, monotone Sounds und Düsternis bestimmen die 80 Minuten. Zu sehen ist zweimal dasselbe Wohnzimmer. Spartanisch eingerichtet: Tisch, Stuhl, Küche, Vogelvoliere, ein Gemälde und keine Fenster. Während draußen die Welt untergeht, herrscht in den Wohnzimmern die meiste Zeit (scheinbare) Idylle: Vogelgezwitscher, die Tapete zeigt florale Muster. Ist also vielleicht das Drinnen eigentlich Draußen, oder umgekehrt?

Das Einbinden des Geruchssinns kreiert eine interessante, weil differenzierte Erfahrung

Der Bühnenraum macht widersprüchliche Lesarten möglich. Einerseits knüpft Mondtag an traditionelle Dystopien an, wenn er zeigt, wie die zweite Version der Frau offenbar von der Arbeit in der kaputten Welt da draußen nach Hause kommt und trotzdem weiterhin überwacht wird – durch das Publikum –, während sie ihre triste immergleiche Feierabendroutine durchläuft. Andererseits greift er mit einem einfachen, aber effektiven Schachzug die belgische Kolonialgeschichte auf. Sowohl in Version 1 als auch Version 2 des Wohnzimmers blickt von einem Gemälde herab: Leopold II., der als König Belgien regierte und als Kolonialherr in der heutigen Demokratischen Republik Kongo im endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert für die Ausbeutung, Folter und Ermordung von Millionen von Menschen hauptverantwortlich war. Vielleicht ist es also auch der Blick des grausigen Herrschers, der von Joseph Conrad in „Das Herz der Finsternis“ verewigt wurde, der die Frau in den Selbstmord treibt? Oder ist es der Geist der langen Jahre der Unterdrückung, der die Frau auch Jahrzehnte nach dem Ende des (alten) europäischen Kolonialismus verfolgt?

Aufgrund des nahezu kompletten Verzichts auf Sprache – man hört einzig mehrfach die Stimme von Bill Withers, er singt „Ain’t No Sunshine“ – liest man diesen Abend anders, je nachdem, welchem der vielen Zeichen – unter anderem gibt es auch Pop-Art-Referenzen zu entdecken, während das Stück ganz grundsätzlich frappierende Ähnlichkeiten zu Franz-Xaver Kroetz’ 1971 geschriebenem und ebenfalls wortlosen „Wunschkonzert“ aufweist – man am meisten Gewicht zuspricht. Und natürlich: je nachdem, welche man erkennt. Das Zusammenspiel aus der stoischen Performance der Zwillinge, der scheinbar biederen Idylle des Bühnenbilds, der drohenden Soundkulisse und dem Sinn der Regie für das Einbinden unseres Geruchssinns – mal riecht es nach Gas, dann wieder nach Nagellack im Zuschauersaal – kreiert eine interessante, weil differenzierte Erfahrung.

Ganz und gar eindeutig und damit ein wenig zu schlicht im Angesicht der vielschichtigen Erzählung, die Mondtag mit seiner zäh fließenden Arbeit in den 80 Minuten zuvor aufmacht, ist das Ende: die Protagonistin erkennt den ewigen Kreislauf der Unterdrückung, in den sie wieder und wieder geworfen wird, und entdeckt den Ausgang. Sie hängt Leopold ab und verlässt den Guckkasten, über den das Publikum sie beim Leiden begaffte, durch den Haupteingang, in Richtung Freiheit. So einfach wird niemand die Nachwirkungen Jahrhunderte andauernder Unterdrückung und den Kreislauf des Ewiggleichen hinter sich lassen können.

Wieder heute, 20 Uhr, HAU2