Willkommene Ruhestörung

Zum zehnten Mal inszeniert das Stadtteilmusikfestival „48h Wilhelmsburg“ die Elbinsel als Bühne. Dabei macht der Wandel des Stadtteils auch vor dem verspielten Festival nicht halt

Wird auch diesmal wieder zur Bühne: das Kulturfloß Schaluppe bei „48h Wilhelmsburg“ vor zwei Jahren Foto: Jan Linnemann

Von Annika Lasarzik

Irgendwann fällt dieser Satz: „Ist ja richtig schön hier!“ Katja Scheer hat ihn schon oft gehört, am Wochenende wird es wohl wieder so weit sein. Denn Scheer koordiniert das Programm des Musikspektakels „48h Wilhelmsburg“, zu dem Tausende BesucherInnen auf den Elbinseln erwartet werden – darunter auch solche, für die Wilhelmsburg noch immer eine Art weißer Fleck auf der Karte war. Und die zuweilen ganz erstaunt sind darüber, dass Hamburgs Süden, ja, richtig schön ist.

In diesem Jahr nun steht ein besonderes Jubiläum an: Das „Netzwerk Musik von den Elbinseln“ und das Bürgerhaus Wilhelmsburg laden zur zehnten Ausgabe ein. Zehn Jahre, in denen sich der Stadtteil verändert hat. Für manche zu sehr, für andere zu wenig, wieder andere sind genervt von der Gentrifizierungsdebatte, die dennoch voll im Gange ist. Und „48 Stunden“? Ist vor allem größer geworden, wie schon der Blick auf die blanken Zahlen zeigt: Kamen 2010 noch um die 2.000 BesucherInnen, waren es 2018 über 20.000. Und stellte anfangs noch eine siebenköpfige Crew das Festival auf die Beine, sorgen heute 60 Produktionskräfte für einen sicheren Ablauf.

Die Idee, ein Wochenende lang einen Teil der Stadt zu bespielen und dessen musikalische Vielfalt abzubilden, kommt aus Berlin. Seit 1999 gibt es das dezentrale Kunstfestival „48h Neukölln“, mit Konzerten, Ausstellungen und Performances in Kleingärten, Parks oder Privatwohnungen. Auf den ersten Blick sind die Parallelen offensichtlich: zwei Orte, die lange verrufen waren, zweimal sehr viel kreative Eigeninitiative und kulturelles Community Building von unten.

Und hier wie dort bekommen die OrganisatorInnen die Veränderungen ihres Umfelds zu spüren. In Neukölln klagte man zuletzt über hohe Fluktuation der Veranstaltungsorte, aus einstigen Bühnen seien Co-Working-Spaces geworden. Und in Wilhelmsburg? 27 von 245 ehemals bespielten Orten gibt es nicht mehr. Weil sie geschlossen wurden, den Besitzer gewechselt haben oder schlicht verschwunden sind. Prominentestes Beispiel dürfte die Soulkitchen-Halle sein.

Doch anders als in Berlin ist der lokale Bezug bei „48h“ bedeutsamer. Wer auftreten will, sollte in Wilhelmsburg leben, arbeiten oder proben. Geändert hat sich nichts daran. Bewerbungen werden längst online angenommen, inzwischen müssen immer öfter welche abgelehnt werden. Nicht nur durch die Digitalisierung ist das Event professioneller geworden: Ein festes Team sichtet Locations, hört Demotapes an, führt monatelang Gespräche, um möglichst viele Leute zum Mitmachen zu bewegen – wobei das Festival heute so beliebt und verankert im Stadtteil ist, dass viele Türen ohnehin offen stehen.

Der wachsende Erfolg birgt aber auch Probleme. Im belebten Reiherstiegviertel wurde vergangenes Jahr so lange und ausgiebig gefeiert, dass bei der Polizei erstmals in der Festivalgeschichte etliche Beschwerden wegen Lärmbelästigung eingingen. Samstagabend kam es auf einer Straßenparty zu einer Prügelei zwischen Feiernden und Mitgliedern eines Motorradklubs, es gab mehrere Verletzte.

Mit „48h Wilhelmsburg“ hatte dieser Zwischenfall zwar nichts zu tun, das Festivalteam zog dennoch Konsequenzen: Dieses Jahr wird es im Reiherstiegviertel weniger Programm geben als bisher. „Wir haben uns entschieden, stattdessen die etwas abseitigeren Ecken Wilhelmsburgs stärker zu bespielen“, sagt Scheer. „Weil wir die Beschwerden ernst nehmen. Aber auch, weil wir ohnehin den Scheinwerfer auf Menschen und Orte richten wollen, die mehr Aufmerksamkeit verdient haben. Im Reiherstiegviertel ist so viel passiert, es braucht weniger unsere Aufmerksamkeit als zum Beispiel das südlicher gelegenere Bahnhofsviertel.“

Doch nicht nur wird der Fokus diesmal eher auf die Veddel, Kirchdorf-Süd oder das Bahnhofsviertel gelegt. Dort, wo mit mehr Publikumsaufkommen zu rechnen ist, wird es Awareness-Teams geben, auch abseits der Konzerte. Sie sollen auch nach 22 Uhr, wenn die offizielle Musik nicht mehr spielt, ansprechbar sein für Betroffene, sei es durch Lärm, Sexismus oder Rassismus.Der Ansatz erscheint nur konsequent bei einem Festival, dass sich das Motto „Listen to your neighbourhood“ auf die Fahnen schreibt: Am Ende geht es auch und vor allem um ein respektvolles Miteinander.

Schließlich soll „48h Wilhelmsburg“, so die Idee, den Stadtteil nicht nur nach außen präsentieren, sondern Menschen vor Ort zusammenbringen. Zum Beispiel mit einem „Audiowalk“ entlang des Veringkanals am Sonntagmittag.

Und die Musik? 149 Konzerte werden an 55 Spielstätten geboten. Das Programm reicht von Indiepop und Punk bis zu türkischem Folk, Balkan-Pop und „schwäbischem Akustik-Rock“ – um nur mal ein paar Schlagworte rauszuhauen, denn die musikalische Bandbreite lässt sich kaum in wenige Sätze verpacken. Los geht es am Freitag um 18 Uhr an den Ursula-Falke-Terrassen, wo Kultursenator Carsten Brosda ein Grußwort spricht. Ab 22.30 Uhr legen DJ Fatou und Booty Carrell bei der Eröffnungsparty im Bürgerhaus auf. Samstags feiert auf dem „Minitopia“-Gelände das „Südwärts“-Kulturfestival für Kinder und Jugendliche Premiere, das in „48h“ eingebettet wurde.

Im Haus der Jugend Kirchdorf steht am Samstagabend um 20 Uhr Hip-Hop-Cypher an, das Kulturfloß „Schaluppe“ hat ab 21 Uhr die Oriental-Slow-House-Combo Shkoon an Bord. Und Katja Scheer freut sich auf die brasilianisch-georgisch-israrelische Band Melima, die Sonntag um 15 Uhr im BUND Natur­erlebnisgarten spielt. Am Ende werden aber ohnehin alle BesucherInnen ihr ganz persönliches Festival erleben. Je nachdem, wohin sie sich treiben lassen.

Eröffnung: Fr, 14. 6., 18 Uhr, Ursula-Falke-Terrassen; bis So, 16. 6., Programm unter www.mvde.de/48h-wilhelmsburg/programm