Poesie in Gebärdensprache: Neue Kanäle der Kommunikation

Mit Hand- und Körperzeichen, Bewegungen und Bildern reden: Die Literaturinitiative „handverlesen“ vermittelt Poesie in Gebärdensprache.

Drei Menschen üben Gebärdensprache

Erster Workshop mit den Künstler*innen Julia Hroch, Kassandra Wedel, Rafael-Evitan Grombe Foto: handverlesen

Dieser Text beginnt mit einer Übersetzung. Es geht um ein Gedicht, mehr schon eine Ballade von Julia Hroch. Sie erzählt darin Geschichten von Menschen, die dagegen kämpfen müssen, wie sie von außen beurteilt werden:

„menschen sind scheiße zueinander. menschen sind scheiße zu mir. warum? aus eifersucht? langeweile? neid? was habe ich falsch gemacht? ich ging ­malochen. in ner schneiderei. ich höre nicht, also riss ich mir den arsch auf. mein chef fands geil. meine kolleginnen nicht. mein chef lobte mich. meine kolleginnen nicht. hab mehr geackert als die anderen leute. die meute hasste mich.“

Aufgeschrieben ist dieser Textausschnitt eine Übersetzung von Tim Holland, ebenfalls Dichter. Julia Hroch hat ihr Gedicht, „ich bin die heftigste Blume am strauch“ in Gebärdensprache entworfen.

Emotional und expressiv

Auf der Website von poesiehandverlesen kann man sehen, wie Julia Hroch zusammen mit einer Kollegin ihre Ballade in Gebärdensprache performt. Es ist tonlos, auch ohne Musik, und doch meint man den Rhythmus des Rap in den Bewegungen der beiden Frauen zu spüren. Verstehen lässt sich die Geschichte nicht ohne Kenntnis der Gebärdensprache, allein dass hier ausdrucksstark und differenziert, emotional und expressiv kommuniziert wird, sieht man schon. Und mit einer temperamentvollen Lebendigkeit, die auch durch ihre Schönheit besticht.

Poesie in Gebärdensprache gehört auf die Bühnen von Literaturfestivals

Dass es das Gebärdensprachen-Gedicht von Julia Hroch in einer Übersetzung von Tim Holland gibt, geht auf einen Workshop der Literaturinitiative handverlesen zurück. Die wurde von Franziska Winkler und Katharina Mevissen 2017 gegründet. Die beiden hatten sich ein paar Jahre zuvor kennengelernt, als sie in Bremen Kulturwissenschaft studierten. Über die Mitarbeit an einem Kurzfilm mit Gebärdensprache entdeckten sie ihr gemeinsames Interesse daran.

Franziska Winkler, die als Tochter gehörloser Eltern aufgewachsen ist, weiß viel über die Kultur der Gehörlosen, die jenseits der schriftlichen Fixierung entsteht, auf Bühnen und in Festivals vorgetragen wird und nur im Medium des bewegten Bildes überliefert werden kann. Sie studiert heute Deaf Studies an der Humboldt-Universität Berlin, dem einzigen Studiengang in Deutschland, in dem man nicht nur die Gebärdensprache lernt, sondern sich auch mit Kultur und Geschichte der Gehörlosen beschäftigt.

Die Poesie der Hörenden und Gehörlosen

Dass es fast keine Schnittpunkte zwischen der Gebärdensprachenliteratur und dem hörenden Kulturbetrieb gibt, ja, dass die meisten Hörenden kaum etwas über die Kultur der Gehörlosen wissen, beschäftigte Winkler und Mevissen. handverlesen haben sie gestartet, um einen Austausch zu beginnen. Das erste Resultat waren zwei Werkstattwochenenden in diesem Frühjahr, an denen fünf gehörlose Künstler*innen und sechs hörende Lyriker*innen aus Berlin zusammentrafen.

Die Initiative stellt sich vor auf der Website poesiehandverlesen.de.

Am 22. Juni 2019, 20 Uhr, „Text kommt in Bewegung“ in der Lettrétage, Mehringdamm 61, 10961 Berlin.

Die Hürden für die Organisation waren groß, Gebärdendolmetscher mussten dabei sein. Aber wie sinnvoll solch eine Begegnung sei, haben sie auch gleich gemerkt, erzählt Mevissen, die als Romanautorin den Literaturbetrieb kennengelernt hat. Es gab so viel Aufklärungsbedarf über die Unterschiede zwischen hörenden und gehörlosen Communities und ihren Kulturbetrieben. Beide Gruppen nutzen spezifische Kanäle; sich füreinander zu öffnen, ist eine neue Erfahrung.

Auf der Website www.­poesiehandverlesen.de findet sich eine kleine Bibliothek, sechs Gedichte sind aus dem Schriftform in Gebärdensprache übersetzt, drei in umgekehrter Richtung. „wind“ von Eugen Gomringer ist das erste Beispiel, konkrete Poesie, die mit der Typografie spielt und die Buchstaben wie vom Wind über das Blatt wehen lässt. Gleich dreimal wird es bewegt übersetzt, von Julia Hroch, Dawei Ni und Jürgen Endress und jede der drei virtuosen Interpretationen ist anders, aber leicht nachvollziehbar als Wind.

Von Dawei Ni ist wiederum ein mit Händen, Mimik und Bewegung des ganzen Körpers vorgetragenes Gedicht – „wie ein wachsen, ein wachen“ – zu sehen, das eine Art Schöpfungsgeschichte erzählt, aber auch die Geschichte von der Entdeckung der Hörenden, dass auch die Tauben denken können.

Eine das Mitdenken fordernde Sprache

Es ist eine anspruchsvolle Literatur in der Bibliothek der Website, die schnell klar macht, dass es hier um mehr geht als eine funktionale Alltagssprache. Die Poesie der Beteiligten ist fordernd, ihre Sprache malerisch, dramatisch, differenziert artikulierend und das einzelne Wort hat gedanklich einen großen Echoraum.

Für dieses Jahr sind mit dem Kooperationspartner Lettrétage e. V. drei öffentliche Veranstaltungen geplant, in deutscher Laut- und Gebärdensprache. Es beginnt am 22. Juni mit neuer Lyrik von Julia Hroch, Anna Hetzer und Laura-Levita Valyte in der Lettrétage (Mehringdamm 61, 20 Uhr). „Es ist etwas Neues, dass Gebärdensprachenpoesie im hörenden Literaturbetrieb sichtbar wird“, betonen Franziska Winkler und Katharina Mevissen. Für sie bedeutet das viel. Zum einen, weil gebärdensprachliche Literatur „die traditionelle Definition von Literatur als Text in Frage stellt“, zum anderen, weil es auch um ein Stück Emanzipation einer Minderheit geht.

Fast wie ein Manifest verkündet ihre Website mit großen Buchstaben: „Gebärdensprachliche Poesie, Literatur und Performance gehört auf die Bühnen von Literaturfestivals!“ Um dahin zu gelangen, machen sie den Anfang.

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