berliner szenen
: Menschen, die Bücher lesen

Die U-Bahn ist an diesem Vormittag so spärlich besetzt, dass alle sitzen können, die wollen. Fast wirkt es gemütlich. Ich lehne mit dem Fahrrad ganz hinten, gucke und staune. Von den zehn Personen, die außer mir im Waggon sind, wischen zwei auf Bildschirmen herum, einer hört Musik, eine macht gar nichts – und ganze sechs lesen ein Buch! Eine kurzsichtige Blonde, die eine Tür weiter angelehnt steht, hält sich ihr Taschenbuch so dicht vors Gesicht, dass ich von Weitem das Foto von Simone de Beauvoir auf dem Cover erkennen kann. Schräg vor mir sitzt eine kleine Dunkelhaarige und liest in Hannah Arendts „Vita activa“. Zweineinhalb Stationen hält sie durch, dann klappt sie das Buch zu, gähnt mit weit offenem Mund und steckt sich Kopfhörer in die Ohren, um entspannt auf ihrem Platz zusammenzusacken.

In der mittleren Bankreihe gibt es gleich drei Leserinnen: ein junges Mädchen mit Kopftuch und langem Mantel, eine hippiemäßig bunte Frau, die zur Lektüre Kopfhörer trägt, und ihnen gegenüber eine fein gekleidete Dame. Auf dem Buch der Dame sehe ich viele Löffel abgebildet und, klein, das Logo des Penguin Verlags. Auch der Typ mit Stoppelhaarfrisur und Sumoringer-Figur ganz hinten im Wagen hält ein Penguin-Produkt in Händen, wie der orangefarbene Buchrücken verrät. Ich kann kaum mit ansehen, wie er den vorderen Teil des Buches um 180 Grad nach hinten geschlagen hat, um es bequem in einer Hand halten zu können. Aber dann mag ich wieder sehr, wie er in regelmäßigen Abständen den Finger in die Seiten steckt und das Buch in den Schoß legt, um eine Minute lang nur so dazusitzen und danach weiterzulesen. – Beim Aussteigen werfe ich einen Blick in den Nachbarwaggon. Zwei Bücherleser. Und eine Frau mit Zeitung! Als ob heute Retrotag wäre bei der BVG.

Katharina Granzin