die dritte meinung
: Die Grünen brauchen eine neue Erzählung für alle europäischen Länder, sagt Rebecca Harms

Rebecca Harms

war dreimal Spitzenkandidatin der Grünen bei Europa­wahlen und bis 2016 Fraktions­vorsitzende im Europäischen Parlament. Bei der Europawahl 2019 trat sie nicht mehr an.

In die Euphorie, die mich am Abend der Europawahlen angesichts des Wahlerfolgs der Grünen ergriffen hatte, mischte sich am nächsten Morgen Ernüchterung. Die grüne Welle hatte an der unsichtbaren Grenze zwischen Ost- und Westeuropa haltgemacht. Im Süden gibt es uns kaum, im Osten gar nicht mehr. Wahlentscheidende Prioritäten der Bürger im Osten und Westen sind nicht nur verschieden, sondern stehen miteinander in Konflikt.

Aus osteuropäischer Sicht scheint ein grüner Klimaschutz konfrontativ und nicht einladend. Wer die EU zusammenhalten will, muss also Brücken bauen. Wir müssen jetzt Modernisierungsszenarien vorlegen, die in der ganzen Europäischen Union den BürgerInnen eine positive Idee von neuen klimafreundlichen Industrien geben. Was werden ArbeiterInnen in Zukunft produzieren, wo kommt der Strom her? Wir müssen besser erzählen von zukunftsfähigen Städten, in denen nicht das Auto im Mittelpunkt steht und trotzdem alle mobil sein und gut leben können. Wir müssen eine nachhaltige ländliche Entwicklung vorstellbar machen, die gemeinsam mit den Bauern der Landflucht etwas entgegensetzt. Wer Riesenfortschritte gegen den Klimawandel verspricht, der wird ohne mehr Zustimmung aus der ganzen EU und von denen, die die Veränderungen mitmachen sollen, nicht weit kommen.

Für den Ausstieg aus der Atomenergie bekamen wir wachsende Zustimmung, weil außer dem Risiko großer Unfälle auch klar war, wo wir einsteigen würden. Den immer wärmeren Planeten retten wir nicht gegen, sondern mit Unternehmen und ihren Beschäftigten. Das wird dauern, es wird Kompromisse brauchen und eine Politik, die die EU-Klimagesetzgebung weiter entwickelt, Anreize schafft und mit großzügigen Investitionen auch mal Zukunftsprojekte schnell sichtbar macht.

Ich freue mich auf die nächste Generation Zukunftswerkstatt, in der SchülerInnen und VW-Arbeiter, IngeneurInnen und Bauern aus vielen europäischen Ländern ihre Pläne und Interessen unter einen Hut bringen. Vielleicht ja immer freitags.