Tourismus-Boom in Travemünde: Urlaub auf der Baustelle

Der Strandort Travemünde wird derzeit radikal umgebaut: Touristische Anlagen sprießen aus dem Boden, die Infrastruktur für Anwohner verschwindet.

Eine Baustelle neben Anlegeplätzen für Boote.

Vom kleinen Seebad zum urbanen Touristenort: Travemünde verändert sich Foto: Christiane Schröder

TRAVEMÜNDE taz | Der stahlgraue Himmel hängt tief an diesem ungewöhnlich kühlen Maitag. Möwen kreischen nervös, durch die noch leeren Balkons der Baustelle pfeift der Wind. „Diese Häuser waren doch letztes Mal noch nicht hier“, sagt der Mann mit der Seemannsmütze zu seiner Frau. Sie sitzen auf der Fähre, die von Travemünde zum Priwall übersetzt.

Hier ist alles neu außer der „Passat“, dem mächtigen Museumsschiff und Wahrzeichen der Halbinsel Priwall. Lange war die Viermastbark der einzige Grund für Touristen, die 2,80 Euro Fährgeld hin und zurück zu bezahlen. Der Priwall lag in einer Art Dornröschenschlaf: Es gab das Schiff und hinter Kiefernwäldern eine Berufsschule und eine Natur-Werkstatt, sonst war hier nicht viel. Seit 2016 ragt hinter dem Yachthafen eine Großbaustelle auf, zwischen Kränen und Mischmaschinen wächst Glas, grauer Beton, rote Holzverschalungen. Einige Anwohner nennen das, was hier entstanden ist, „Würfelhusten“, oder auch: „Klein New York“.

Obwohl sich erst erahnen lässt, wie es hier aussehen wird, wohnen in einigen der 507 Ferienwohnungen schon Touristen. Der Hamburger Lukas Levinsky macht mit seiner Familie Urlaub und war zuerst erschrocken, als er ankam: „Im Katalog stand nichts davon, dass wir hier in einer Baustelle wohnen.“ Trotzdem mag er den Ort, „wir sind Ostsee-Fans“, sagt er.

Die Anlage ist eines der Großprojekte, die Lübeck in den letzten Jahren in seinem nördlichsten Stadtteil Travemünde geplant hat. Diese Projekte haben Travemünde zur „größten touristischen Baustelle des Nordens“ gemacht, wie die Infotafel eines Investors stolz verkündet. Noch, heißt es darauf, könne man die Wohnungen als Geldanlage kaufen. 100 Quadratmeter Penthouse-Wohnung für 590.000 Euro – günstig sind sie eher nicht.

Die Industrialisierung des Tourismus

Wer dort eine Wohnung beziehe, sagt Eckhard Erdmann, dürfe nichts an der Einrichtung verändern. Zwei große Firmen verwalten und vermieten sie – „das ist Betongeld“, sagt Erdmann, auch wenn die bauliche Qualität umstritten sei. Erdmann ist Vorsitzender der „Gemeinschaft der Priwallbewohner“, ein Verein, der die Interessen der alteingesessenen Bewohner vertritt. „Wir sind das kleine gallische Dorf“, sagt er.

Allerdings scheint im Dorf der Zaubertrank zu fehlen. „Die Öffentlichkeit war bei den Planungen hier nicht beteiligt. Viele finden, das passt alles nicht hierher“, sagt er und zeigt auf die Baustelle. Gewerbesteuer, Jobs – dadurch, dass Investoren und Verwalter nicht von hier kommen, fließe viel Gewerbesteuer ab, „und es entstehen hauptsächlich schlecht bezahlte Jobs“. Wer hier arbeite, könne sich ein Leben auf dem Priwall nicht leisten, „schon allein die Fähre kostet etliche hundert Euro im Jahr“. Sein Kollege Frank Scharlaug ergänzt: „Der Priwall war immer attraktiv durch seine Natur. Das wird jetzt weniger.“

Viele kritisieren, dass der Priwall und der ganze Stadtteil seinen Charakter verändert. Besonders sichtbar ist das aus dem 24. Stock: Schwarze Riegel, graue Würfel, viel versiegelte Fläche und dazwischen künstlich aufgeschüttete Dünen. Karl Erhard Vögele hat eine Wohnung im Maritim-Hochhaus, dem Wahrzeichen Travemündes. Er ist so etwas wie der Chronist des Stadtteils, von seinem Balkon aus macht er Fotos für das Stadtteil-Magazin. Er deutet nach links: „Dort, wo das breite Strandstück endet, war die Grenze. Das war ein FKK-Strand, und wir lagen nur ein paar Meter vor dem Wachzaun“. Nach dem Mauerfall passierte lange Jahre nichts mit dem Stadtteil, während die Seebäder in Mecklenburg im Bauboom an Travemünde vorbeizogen. Jetzt geht es den meisten Bewohnern zu schnell. „Die Leute schauen übers Wasser und erkennen den Priwall nicht wieder.“

Auch am Fuß des Hochhauses haben gerade zwei neue Hotels eröffnet, und überall sprießen neue Ressorts, Ferienhäuser oder Residenzen aus dem Boden. Dass es Debatten über Ästhetik gibt, erinnert Vögele an die Kontroversen um das Hotel, in dem er wohnt. Die ästhetische Kritik kann er verstehen, auch wenn er sie nicht unbedingt teilt. Er sieht noch etwas anderes, das sich verändert: „Den Tourismus von früher, als man bei sich bei einer Familie im Haus einmietete und sich kannte, den gibt es immer weniger. Jetzt haben wir große Vermarkter, das ist industrieller Tourismus.“

Vögele sieht auch, dass es das Neue ist, was viele Touristen anzieht. Denn mit den Ressorts entsteht Entertainment im großen Stil: Event-Gastronomie, Indoor-Spielplätze, ein Golfplatz. Und dann natürlich: „Das Meer, die großen Schiffe ganz aus der Nähe, das ist ein Benefit“. Christian Martin Lukas, Leiter der Lübecker Marketing GmbH, ergänzt: „Es gibt die Naturstrände, Kinderangebote, und wenn es regnet, ist die Innenstadt mit ihrer Kultur nur eine Stadtbus-Fahrt entfernt.“ Die Touristen lieben diese Kombination offenbar.

Außerdem ist da das besondere Licht und die Weite, in die hat sich Gudrun Wiemann verliebt. Sie überzeugte ihren Partner, im Ruhestand nach Travemünde zu ziehen. Das Paar liebt den Ort, aber sie finden es unheimlich, wie er sich in den letzten zwei Jahren gentrifiziert hat: „Die meisten Häuser, die frei werden, werden von Investoren gekauft“, sagt Michael Wiemann. „Die Mietpreise haben dadurch extrem angezogen.“ Er fürchtet, dass die Bewohner in Randgebiete abgedrängt werden und die Nachbarschaften zerfallen, die für ihn auch Lebensqualität bedeuten. „Bei der Planung denkt man hier mehr an die Touristen als an die Bürger“.

Was fehle, sei beispielsweise ein Verkehrskonzept. „Die Radwege sind katastrophal, und es ist ein Problem, mit dem Auto durchzukommen.“ Auch die kulturellen Angebote sind weniger geworden: Dort, wo das neue Ressort gerade eröffnet hat, stand einmal ein Schwimmbad. Ein Kletterpark und das Theater wurden schon im Jahr 2017 geschlossen.

Touristen bald in der Überzahl

Das ist ein Grund, warum vor allem Rentner herziehen und wenig junge Leute. Von den 13.500 Einwohnern ist die Hälfte über 65 Jahre alt. Gehen die Pläne auf, könnten die Einheimischen bald in der Minderzahl sein. „Wir erleben die größte Umwälzung, die Travemünde je hatte“, sagt Ulf Freiherr von Danckelmann, Vorsitzender der örtlichen Wirtschaftsgemeinschaft. „Aus einem kleinen Seebad wird gerade ein urbaner Touristenort.“ Früher sei Travemünde mit dem inzwischen geschlossenen Kasino ein exklusiver Badeort gewesen, „heute geht es in Richtung Massentourismus“.

Danckelmanns Verein vertritt die Unternehmen vor Ort, auch Gastronomiebetriebe und Hotels, das Wachstum der letzten Jahre hat er mitgetragen. „Wir sind die Badewanne für Hamburg“, sagt er. „Wir haben das historische Zentrum, das Meer, die dicken Pötte. Aber jetzt müssen wir schauen, was wir den Touristen bieten können.“

Den Touristen – und den Bewohnern. Einst war Travemünde die Bastion der reichen Hansestadt gegen Piraten-Angriffe. Heute bringt das Seebad mit der Altstadt aus rotem Backstein und weißen Holzgiebeln der Stadt Devisen, fast ein Viertel der Lübeck-Touristen kommt hierher. Sie werden vielleicht nicht wiederkommen, wenn aus dem Stadtteil eines Tages ein Geisterort wird, weil die Bewohner sich ein Leben hier nicht mehr leisten können.

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