„Arbeitszeit und Löhne sind zentraler als Klimaschutz“

Bei der sogenannten Juniorwahl haben vor allem die Grünen abgeräumt. An der Karl-Volkmar-Stoy-Berufsschule in Jena haben die SchülerInnen gegen den Trend gestimmt: Dort erhielt die AfD die meisten Stimmen. Sozialkundelehrerin Seibold-Pfeiffer erklärt, warum

Am Freitag vor der Europawahl demonstrieren SchülerInnen in Berlin für mehr Klimaschutz Foto: Karsten Thielker

Interview Ralf Pauli

taz: Frau Seibold-Pfeiffer, vergangene Woche haben 2.760 deutsche Schulen die Europawahl simuliert. Das Ergebnis ist eindeutig: In allen Bundesländern haben die Grünen mit Abstand die meisten Stimmen bekommen. An Ihrer Schule jedoch kommt die AfD mit 16,5 Prozent auf den ersten Platz. Die Grünen landen nur an dritter Stelle. Wie erklären Sie sich das?

Uta Seibold-Pfeiffer: Ein Grund liegt sicher darin, dass wir eine berufsbildende Schule sind. Unsere Schüler sind zwischen 15 und 25 Jahre alt, kommen teilweise aus bildungsfernen Schichten und auch zum großen Teil aus ländlichen Gebieten. Wir haben zwar auch Schüler aus Jena und auch Schüler mit Abitur, die eine duale Ausbildung beginnen. Aber viele unserer Schüler kommen von der Hauptschule. Vielleicht erklärt das, warum bei uns an der Schule so viele AfD gewählt haben.

Hat Sie das Ergebnis überrascht?

Nein. Wir machen seit fast zwanzig Jahren bei den Juniorwahlen mit. Auch bei der Landtagswahl 2014 oder der Bundestagswahl 2017 haben ähnlich viele Schüler bei uns für die AfD gestimmt. Positiv formuliert kann man sagen, die Demokraten an der Schule sind die große Mehrheit. Aber ehrlich gesagt sind wir im Kollegium ein bisschen enttäuscht über das Wahlergebnis. Wir geben uns viel Mühe, mit unseren Schülern über Politik ins Gespräch zu kommen.

Können Sie uns ein Beispiel geben?

Zum einen bei den Juniorwahlen selbst. Wir sind an der Schule sieben Sozialkundelehrer, die alle mit ihren Schülern die Wahl vorbereiten und durchführen. In meiner Klasse zum Beispiel habe ich 14 Tage vor der Juniorwahl einen Workshop mit zwei Studenten durchgeführt, die über die Landeszentrale für politische Bildung zu uns an die Schule gekommen sind. Im Workshop ging es um Fragen wie: Warum ist Politik wichtig? Was betrifft mich persönlich? Wie kann ich mich politisch einbringen? Danach haben wir uns auch mit den Organen der Europäischen Union und deren Aufgaben auseinandergesetzt. Meine Klasse hat dann in der Woche drauf auch die Wahlunterlagen für die anderen Klassen vorbereitet, das Wahllokal eingerichtet und Wahlbenachrichtigungen geschrieben.

Haben Sie sich auch mit den Wahlprogrammen der einzelnen Parteien beschäftigt?

Ja. Seit der Bundestagswahl 2013 laden wir sogar die Direktkandidaten der entsprechenden Parteien zum Speeddating an unsere Schule. Dort führen dann immer 5 bis 6 Schüler Kurzgespräche mit je einem Politiker, dann werden die Tische gewechselt. Das war dieses Mal bei der Europawahl leider nicht möglich. Generell ist uns wichtig, die Schüler mit politisch Verantwortlichen in Kontakt zu bringen. Wir fahren etwa mit unseren Schülern auch zum Landtag nach Erfurt oder zum Bundestag nach Berlin.

Gab es denn bisher keinen Widerstand gegen einen AfD-Politiker an Ihrer Schule?

Die Idee

Die Juniorwahl findet seit 1999 parallel zu Landtagswahlen, Bundestagswahlen und Europawahlen statt und soll das Interesse an Politik und demokratischen Prozessen bei jungen Menschen wecken. Zur jetzigen Europawahl beteiligen sich rund 2.700 deutsche Schulen im In- und Ausland; rund 650.000 Schülerinnen und Schüler gaben ihre Stimme ab.

Die Ergebnisse

Klarer Wahlsieger sind mit 33,9 Prozent die Grünen – vor SPD (12,1 Prozent) und CDU/CSU (10,7 Prozent). Die AfD landet mit 6,5 Prozent hinter FDP (7,4 Prozent) und der Satirepartei Die Partei (6,7 Prozent).

Das hat im Vorfeld natürlich große Diskussionen in der Schülerschaft ausgelöst. Einige Schülergruppen haben auch gesagt: Zu dem Kandidaten setze ich mich nicht an den Tisch. Andere haben ganz kritische Fragen vorbereitet und versucht, den Kandidaten in die Enge zu treiben. Aber es gibt bestimmt auch die, die sich in den AfD-Aussagen wiederfinden. Aber wichtig ist doch, dass sich die Schüler über die Gespräche selbst eine Meinung bilden. Mein Eindruck ist, dass die direkten Gespräche eine große Wirkung erzielen. Das ist auch bei den Bundestagsbesuchen zu sehen. Die jungen Menschen erleben eine Diskussion im Plenarsaal und sprechen dann im Anschluss mit Abgeordneten. Ich habe schon oft erlebt, dass dadurch das Interesse an Politik stark steigt. Wir machen an der Schule auch Planspiele, bei denen die Arbeit im Stadtrat oder Bundestag simuliert wird.

Das größte Planspiel findet derzeit ja jeden Freitag statt, wenn SchülerInnen bei den „Fridays For Future“-Demos für den Klimaschutz streiken. Hat das Thema bei Ihnen an der Schule eine Rolle gespielt?

Da muss ich ehrlich sagen, nicht an unserer Schule. Es hat zwar einzelne Nachfragen gegeben. Ein Teil unserer Schüler macht ja eine Duale Ausbildung, das heißt, der Betrieb stellt die Berufsschüler von der Arbeit frei. Für diese Schüler haben sich die Demos quasi schon erledigt. Und von den anderen ist mir auch nicht bekannt, dass da jemand zu den „Fridays For Future“-Demos gegangen wäre.

Haben Sie den Eindruck, dass Klimaschutz für Jugendliche in Thüringen nicht so wichtig ist?

Zumindest nicht für unsere Schüler. Vielleicht liegt es am Alter, vielleicht daran, dass wir eine Berufsschule mit dem Schwerpunkt Wirtschaft sind. Da geht es viel um Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit und Löhne. Das scheint in der Lebensrealität der jungen Erwachsenen hier zentraler zu sein als Umweltschutz.

Das ist auch ein Vorwurf an die „Fridays For Future“-Demos: dass dort überwiegend GymnasiastInnen teilnehmen. Wie gespalten sind da Ihrer Ansicht nach die Lebenswelten?

Die Überschneidungen sind schon gering. Wir haben in bestimmten Ausbildungsgängen an der Schule das, was man als Bildungsverlierer bezeichnet würde. Schüler, die aus sozial schwachen Familien kommen. Die mit Ach und Krach den Hauptschulabschluss geschafft haben. Dazu kommen auch viele Geflüchtete an der Schule. Und gleichzeitig haben wir eine Klasse mit Bankkaufleuten, wo fast alle Abitur haben. Unsere Klientel ist also sehr heterogen und natürlich ganz anders als an einem Gymnasium, wo vielleicht fast nur Akademiker-Eltern zu finden sind.

In Thüringen haben bei der Juniorwahl 15 Prozent der SchülerInnen AfD gewählt – an der Karl-Volkmar-Stoy-Schule waren es sogar 16,5 Prozent Foto: Peter Jülich/Agentur Focus

Ihre Schüler bleiben aber nicht nur den Klimademos fern, sie wählen wie jetzt bei der Juniorwahl häufiger die AfD als jede andere Partei. Welchen Einfluss können Sie als Schule denn überhaupt nehmen?

Ich glaube, dass das Elternhaus einen entscheidenden Einfluss hat. Wenn ein Schüler mit 15 oder 16 zu uns an die Schule kommt, hat er sein politisches Grundverständnis schon größtenteils geprägt. Wir können natürlich gegensteuern, und wir versuchen zu begeistern. Es kommt aber viel auf das Umfeld der Schüler an. Ich erlebe, dass es da einen Graben gibt zwischen denen aus Jena und denen aus dem Umland. Das sieht man auch bei der Europawahl: Die Universitätsstadt Jena hat Grün gewählt, außen herum gibt es schwarze oder blaue Flecken. Die politischen Einstellung stellt man auch in den Klassen fest.

Die KultusministerInnen sind in großer Sorge wegen rechtsextremer Einstellungen unter Jugendlichen. Der thüringische Bildungsminister Helmut Holter hat das Thema Demokratieerziehung vergangenes Jahr zum drängendsten Thema ernannt. Was würden Sie den Ministerien raten?

Man müsste viel früher mit politischer Bildung anfangen. Die Schüler, die zu uns kommen, haben in der Regel zwei Jahre Sozialkunde hinter sich. Die Kenntnisse sind aber oft sehr schwach. Ein Kollege erzählte mir, dass in der gesamten Klasse niemand wusste, was eine Gewerkschaft ist. Das sagt doch alles. Ich glaube aber nicht, dass man die Stundenzahl erhöhen müsste. Mit einer Stunde Sozialkunde in der Woche kann man was erreichen.

Die KultusministerInnen wollen vor allem auch zu mehr demokratischer Kultur erziehen. Geht das?

Seit zwei Jahren gibt es in Thüringen eine Abfrage an die Schulen, inwieweit sie DDR-Geschichte vermitteln. Das sollen wir auch gemeinsam mit den Schülersprechern beschließen, was wir über die DDR-Geschichte vermitteln. Das finde ich schwierig. Wir machen viele Sachen, wie der Besuch bei der Stasiunterlagenbehörde in Gera oder Erfurt. Dass wir mit den Schülern jetzt die Lehrplaninhalte abstimmen sollen, finden wir merkwürdig. Was aber richtig und wichtig ist, ist, dass an der Schule eine demokratische Kultur herrscht. Und das leben wir den Schülern hier auf jeden Fall vor.

Foto: Claus Rose

Uta Seibold-Pfeiffer

52 Jahre, unterrichtet Mathematik und Sozialkunde an der Karl-Volkmar-Stoy-Schule in Jena und koordiniert die Juniorwahl.

Wie genau?

An unserer Schule beschließen wir zum Beispiel in einer großen gemeinsamen Runde, welcher Lehrer welche Klasse im nächsten Schuljahr übernimmt. Üblich ist, dass der Schulleiter das verfügen kann. Darüber hinaus haben wir einen Personalrat und natürlich Klassen- und Schülersprecher. Und wir versuchen, uns als Europaschule auch nach Europa zu öffnen. Wir haben Partnerschulen in Pilsen und Brest (Frankreich), mit denen wir Azubi-Austausche machen. Diejenigen, die Französisch gewählt haben, fahren auch nach Paris. Und dann engagieren wir uns stark gegen Rassismus. So war vor Kurzem der Präsident des thüringischen Verfassungsschutzes, Stephan Kramer, an der Schule. Da ging es auch um Themen wie: Was, wenn die AfD irgendwann an der Regierung wäre.

Wenn es blöd läuft, schon nach den Landtagswahlen im Herbst. Wenn Sie an die Ergebnisse der Juniorwahl denken: Sind Sie beruhigt oder eher beunruhigt?

Wir sind an der Schule eher beunruhigt. Wir machen auf jeden Fall weiter mit politischer Bildung. Resignieren werden wir nicht.