Roman von Rocko Schamoni: Das Glücksversprechen von St. Pauli

Der Musiker und Autor Rocko Schamoni hat einen Roman über die Hamburg-Zeit der Beatles geschrieben. Und über Abenteuer im St. Pauli der 60er.

Ein Schild mit der Aufschrift „Star-Club“

Liaison von Rotlicht und Jugendkultur: St.Pauli, Große Freiheit 39, Star Club Foto: dpa

Vielleicht ist es in den 1960er-Jahren in der Bundesrepublik auch schon so gewesen. Genauso, wie es später in den 1980ern war, als Rocko Schamoni nach Hamburg kam. Ach was, Hamburg. Das interessierte doch keinen. St. Pauli, so ist es auch in Schamonis Tatsachenroman „Große Freiheit“, war „the place to be“, in den darin beschriebenen Sechzigern genauso wie in den Achtzigern: „St. Pauli. Das glänzt irgendwie geheimnisvoll. Da ist das pralle Leben.“

Wer eine antibürgerliche Grundhaltung hatte, davon kündet mit ordentlich viel Pathos der Roman, den zog der Stadtteil am Hamburger Hafen magisch an: „St. Liederlich. Wie die St. Paulianer zu ihrem Stadtteil sagen. St. Liederlich. Der Stadtteil der fragwürdigen Existenzen, der Verwerflichen, der Randständigen, der Aussätzigen.“ Und später der Punks, wie Schamoni einer war, nachzulesen in seinem Buch „Dorfpunks“ (2004). Vielleicht schreibt Schamoni seinen historischen Roman über den Stadtteil und einen gewissen Wolfgang Köhler deshalb auch im Präsens.

Wolli, wie er schon in den Büchern des Schriftstellers Hubert Fichtes hieß, und den es wirklich gab, spülte kurz vor dem Mauerbau ein Wanderzirkus, in dem er jobbte, aus der DDR in das westdeutsche Vergnügungsviertel. Und wenn man bei Schamoni liest, dass dieser Mann sich hier sofort zu Hause fühlte, „mehr als an jedem anderen Ort der Welt“, dann hört man stark den Autor Rocko Schamoni aus diesen Zeilen.

Als Schamoni Köhler kennenlernte, war der schon 85 Jahre alt und hatte mit seinem Leben weitgehend abgeschlossen. Was den Überzeugungskiffer nicht davon abhielt, Schamoni seinen Nachlass anzuvertrauen und sein Leben zu erzählen, ehe er 2017 verstarb. Und Köhler hatte einiges zu überliefern, zu berichten: Etwa, wie er auf dem Kiez zunächst als Gelegenheitsdealer anfing, dann Barmann wurde, sodann dank einer ihn liebenden Frau, die ihn dazu auserkor, ein Zuhälter wurde. Schließlich ein Koberer, der gewissen Etablissements Kundschaft zuführte, die er dann auch in eigener Verantwortung bewirtschaftete.

Fick-Flatrate

Daneben sammelte der Erotomane Kunstwerke, las Marx, schrieb und malte selber, war Betreiber von Pornokinos und Puffboss, ein hippiesker Indienreisender und noch so vieles mehr. Mit einer so großen Zahl von Tätigkeiten und Rollen kann nicht mal Autor Schamoni aufwarten, und bei dem ist es schon viel: Musiker, Schriftsteller, Entertainer mit und ohne die Scherzkombo Studio Braun. Pudelclub-Betreiber, Film- und Theaterschauspieler und neuerdings eben auch eine Art Historienschreiber des Hamburger Stadtteils St. Pauli.

Treffen möchte Schamoni sich im Stadtteil heute lieber nicht. Er findet St. Pauli mittlerweile ziemlich trist, das mehrgeschossige Laufhaus namens Palais d’Amour an der Reeperbahn sowieso. Da fängt Wolli am Ende des Romans als „Puffboss“ nun an, Autor Schamoni musste es mit einem Journalisten zwecks PR schon besuchen. Heute heißt der scheußliche Funktionsbau Pink Palace, und es gibt dort eine Fick-Flatrate.

Autor Rocko Schamoni

„Heute ist in St. Pauli alles overground“

Die Fragen zum Roman beantwortet Schamoni also der taz lieber im Restaurant Marinehof, nahe seiner Wohnung auf der Fleetinsel, einer Künstler­enklave in Richtung City, und stärkt sich dabei mit einem Teller Hausmannskost, Bratwurst mit Kartoffelpüree. Er kommt aus dem Studio, wo er gerade ein neues Album aufnimmt. War St. Pauli damals zu Wollis Zeiten so trist, wie der Autor es heute empfindet?

In dem Roman „Der Goldene Handschuh“ des Studio-Braun-Kollegen Heinz Strunk über einen Frauenmörder der 1970er Jahre zeichnet sich dies ja auch sehr deutlich ab. Schamoni hingegen streift die Kriegsruinen, die Kriegsrückkehrer, all das Elend der Prostitution und den Dreck in „Große Freiheit“ eher am Rande. Anders trist als heute sei es gewesen, sagt Schamoni. Ihn habe an der Geschichte vor allem interessiert, dass die 1960er in St. Pauli eine unglaubliche „Impulsgeberzeit“ gewesen sind, eine Aufbruchszeit.

Libertinage der ersten Jugend

„Damals wurden Bands, Clubs, Popmusik an sich erfunden. Als ich recherchiert habe, waren da wahnsinnig viele Fakten dabei, die ich noch nicht kannte. Dass es zum Beispiel Starclubs in vielen deutschen Städten gab, nicht nur in Hamburg, und die Bands jede Nacht in einem anderen dieser Starclubs aufgetreten sind.“ Der Sex habe ihn eigentlich weniger interessiert.

Und tatsächlich ist „Große Freiheit“ zu großen Teilen ein Roman über die Hamburg-Zeit der Beatles, anfangs eine grottenschlechte Band, von der sich Wolli mit Grausen abwandte – eine Band, die sich ihre eigentliche Bühnenreife erst mühsam tingelnd, Auftritt für Auftritt, Starclub für Starclub erspielen musste.

Die Begeisterung für die Musik, den Pop-Appeal, die Libertinage der ersten Jugend, die sich dem Muff der Nachkriegsjahre entwindet und auf St. Pauli austobt, all das färbt allerdings in Schamonis Roman erheblich positiv auf Wollis Kerngeschäft ab: den Handel mit der Ware Frau, auch wenn Wolli den Frauen – er verstand sich als sozialistisch – tatsächlich etwas weniger Geld abnahm als manch anderer. Als Überhöhung möchte Schamoni das jedoch nicht verstanden wissen. „Ich bin ein Fan dieser Zeit, dieses Aufbruchs, da ist mit den Beatclubs in kurzer Zeit ein neuer Kulturraum erfunden worden. Wenn ich könnte, wäre ich gern einen Monat lang dabei gewesen.“

Rocko Schamoni: „Große Freiheit“. Carl Hanser Verlag, München 2019, 288 Seiten, 20 Euro

Und dass Schamonis Wolli ein verdammt netter Kerl ist, viel netter als der Wolli, den Hubert Fichte präsentiert? In „Wolli Indienfahrer“, erstveröffentlicht 1978, lernt man neben dem kunstsinnigen und ansatzweise intellektuellen auch einen brutalen Kerl kennen und ist dann doch ein bisschen überrascht: Schamoni rechnet diesen Anteil dem Zeitausschnitt zu, über den seine „Große Freiheit“ erzählt. Es soll ja weitergehen, die Recherchen für den Folgeroman laufen bereits. Das „Breaking Bad“, die eigentliche Bösewerdung, von Wolli beginne erst, wenn der erste Roman ende und der zweite dann begänne: 1966, als Wolli eine Etage im Palais d’Amour übernimmt.

Rotlicht und Jugendkulturen

Für die Frauen war es sicher seltsam, dort auf dem Weg in die Zimmer an Porträts vorbeizugehen von Marx und Mao, die Wolli verehrte. „Ja“, sagt Schamoni und lacht, „vor allem für die Freier, da passt ja nichts mehr, das ist total grotesk. Um das zu verstehen, würde ich mich jetzt gerne mit Sexarbeiterinnen treffen, die sich bei Wolli eingemietet haben.“ Nicht einfach, aber über den Szenefotografen Günter Zint habe er schon zu einer von ihnen Kontakt aufnehmen können.

Von dem St. Pauli von damals sei heute nicht mehr viel übrig. Die Entwicklung des Viertels seit den 1960ern sieht Schamoni als Verfallsgeschichte. Einen Verfall Richtung Gentrifizierung wohlgemerkt. Mit dem Manifest „Not in Our Name, Marke Hamburg!“ sträubte sich Schamoni zusammen mit anderen Kulturschaffenden der Stadt vor zehn Jahren gegen die Indienstnahme für die Vermarktung des Viertels, in dem Prostitution eine immer geringere und Tourismus eine immer größere Rolle spielt. Junge Leute zieht es seit einigen Jahren eher in den südlich der Elbe gelegenen Stadtteil Wilhelmsburg oder gleich nach Leipzig.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

„Heute ist in St. Pauli alles overground. Es gibt – so viel ich weiß – keine schwarzen Clubs mehr, keine besetzten Häuser. Es ist alles durchleuchtet, angemeldet, versteuerbar, vermietbar, verkäuflich.“ Dass man die zerstörten Stockwerke über dem Golden Pudel Club an der Hafenstraße nach dem Brand vor drei Jahren jetzt wieder aufgebaut hat, versteht sich auch als Zeichen gegen die „Verödung“ des Viertels.

Aber muss man wirklich noch weitere Bücher über St. Paulis Vergangenheit schreiben? Reicht es nicht mal mit der Nostalgie?

Schließlich sind hier doch nur genau wie an anderen geeigneten Orten Westdeutschlands auch, etwa dem Frankfurter Bahnhofsviertel, Rotlicht und Jugendkulturen für einige Zeit eine Zweckehe eingegangen, weil beide laut sein wollen, und zwar bis spät in die Nacht. Der Unterschied ist nur die schiere Größe von St. Pauli, das übrigens immer noch groß und dreckig ist und auf der gesamten Fläche nach Urin stinkt.

Die Frage findet Rocko Schamoni immerhin bedenkenswert.

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