Rückkehr der
Grenzen

Dänemark baut derzeit einen Zaum an der Grenze zu Deutschland. Noch wirksamer aber sind andere, unsichtbare Grenzen: Sie sorgen dafür, dass Menschen aus Osteuropa schlechter behandelt werden

Manche Menschen aus Osteuropa landen auf der Straße – so Dimitar aus Bulgarien und Alex aus Ungarn, die in Hannover unter einer Brücke beim Hauptbahnhof leben Foto: Ole Spata/dpa

Von Friederike Gräff

Gleich fahren wir über die Grenze“, sagte ich kürzlich zu meinen Kindern. „Wie sieht eine Grenze aus?“, fragten sie mich. Wer heute drei und sechs Jahre alt ist, Europäerin und vor allem in Europa unterwegs, kann sich unter einer Grenze wenig vorstellen. Wir sind kurz darauf über die Landesgrenze gefahren, aber wie unbedeutend wirkt die, wenn man nicht kontrolliert wird. Ein leeres Schalterhäuschen, das ist alles. Das ist in seiner Unspektakulärheit spektakulär.

Zwar baut Dänemark gerade einen neuen Grenzzaun, offiziell, um die Wildschweine aus Deutschland am Einwandern zu hindern; aber noch wichtiger sind andere, unsichtbare Grenzen. Sie laufen mitten durch Deutschland, durch Hamburg, durch das Oldenburger Land, durch eine beliebige Kleinstadt: Es sind soziale Grenzen und sie trennen zwischen einheimischen Arbeitskräften und solchen aus Osteuropa, sie trennen auch bei denen, die ganz unten angekommen sind: zwischen deutschen und nicht-deutschen Obdachlosen.

In Niedersachsen, einer Hochburg der Fleisch­industrie, verläuft eine dieser Grenzen. Es gibt dort ein Dorf im Oldenburger Land, wo man ein eigenes Wort für die Werkvertragsarbeiter aus Osteuropa schuf. „Eimermenschen“ nannte man sie, weil sie ihre Messer in einem Eimer mit zur Arbeit in die Schlachtbetriebe trugen. Das war den deutschen Unternehmen, die an den billigen Arbeitskräften verdienten und verdienen, unangenehm und sie stellten diese Praxis ab. Aber auch nur diese.

Peter Kossen ist Priester im Oldenburger Münsterland und hat einen Verein zur Verteidigung der Rechte der osteuropäischen Arbeiter gegründet. „Wissen Sie, was sich hier ein kleiner Junge zu Weihnachten gewünscht hat?“, sagt er: „Einen Trecker und einen Polen.“

Es gibt eine seltsame Gleichzeitigkeit von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der osteuropäischen ArbeiterInnen: Sie steigen mitten in den Stadtzentren aus den Reisebussen, die sie an ihre Arbeitsplätze bringen. Ihre Kinder besuchen die örtlichen Kitas, wo die Erzieherinnen besorgt sind, weil sie durch den Lärm in den Unterkünften übernächtigt und erschöpft sind. Aber die Bruchbuden, die man ihnen als Wohnort vermietet, scheinen hinter einer gläsernen Wand zu stehen. Eine Insel für sich.

So ähnlich beschreibt Mirela Barut von der Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit in Hamburg die Situation von osteuropäischen Pflegekräften in der häuslichen Pflege. Oft sind es Frauen, die kein Deutsch sprechen, kaum Pflegekenntnisse haben und froh sind über eine Arbeit, bei der sie ein Vielfaches dessen verdienen, was zu Hause möglich wäre. Der Preis, den sie dafür zahlen: dass sie statt der im Arbeitsvertrag angegebenen Zeiten nahezu pausenlos im Einsatz sind. Die Angehörigen der Gepflegten, so vermutet Barut, wüssten davon – und nähmen es billigend in Kauf. Wie viele Frauen das betrifft? Die wenigsten kommen zur Beratung, daher kann Mirela Barut nur eines sagen: „Wir gehen davon aus, dass es sehr viele gibt.“

Und dann gibt es noch eine dieser neuen, unsichtbaren Grenzen und sie verläuft unter denen, die ohnehin unten angekommen sind: den Obdachlosen. In Hamburg dürfen Obdachlose aus den osteuropäischen EU-Staaten nicht dauerhaft ins Winternotprogramm. Stattdessen werden sie an eine Wärmestube verwiesen. Die Sozialsenatorin sagt zur Begründung, es würden von dubiosen Arbeitgebern ganze Busse von Arbeitern vor die Türen des Winternotprogramms gefahren. Diesen Missbrauch wolle man verhindern.

Es ist ein grundsätzlicher Streit angesichts der Ungleichbehandlung der Obdachlosen ausgebrochen. Auf der einen Seite die Hamburger Senatorin stellvertretend für eine Regierung, die offenkundig Angst hat, zum Ziel aller Bedürftigen aus den ärmeren Nachbarländern zu werden. Und auf der anderen Seite SozialarbeiterInnen, die sagen: Es kann nicht sein, dass man diese Leute ohne Hilfe lässt.

Und, politischer gesprochen: Ein Land, das so deutlich vom EU-Binnenmarkt profitiert wie Deutschland, kann nicht nur nehmen. Es muss auch geben. Und dazwischen stehen einige – nicht alle – der einheimischen Obdachlosen, die Furcht haben, das wenige, was sie haben, teilen zu müssen.

Für die, die auf der falschen Seite der neuen Grenzen stehen, hat es lange keine Lobby gegeben. Die Gewerkschaften taten sich schwer, in den Werkvertragsarbeitern mehr als potenzielle Instrumente der Lohndrückerei zu sehen. Und auch für die Pflege- und Reinigungskräfte, die Paketauslieferer aus Osteuropa ist bislang kaum jemand auf die Straße gegangen.

Es sind Branchen, in denen schon die einheimischen Kräfte alles andere als privilegiert sind. Zumal in einer Zeit, in der, so sagt es der Hamburger Historiker Stefan Rahner, „die Arbeitswelt neoliberal aufgeweicht“ ist. In den 60er-Jahren, als die ersten Gastarbeiter für die Bundesrepublik angeworben wurden, bekamen sie reguläre Arbeitsverträge. Befristete, wie sie heute allgegenwärtig sind, waren die Ausnahme.

Und doch: Ein bisschen tut sich. Die Gewerkschaften haben Ansprechstellen für die osteuropäischen ArbeiterInnen gegründet, und mit mehr oder weniger Erfolg versucht, sie als Mitglieder zu gewinnen. Auf Demos gegen Leiharbeit sieht man GewerkschaftlerInnen mit Transparenten, auf denen steht: „Wir lassen uns nicht spalten.“

Seit Einführung des Mindestlohns müssen die Unternehmen zumindest erfinderischer sein, um ihn zu unterlaufen. Und als Peter Kossens Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ aus der Taufe gehoben wurde, sprach immerhin der nordrhein-westfälische Arbeits- und Sozialminister. Gerade eben wurde nach langem Ringen ein Gesetz für die Paketbranche verabschiedet, wonach künftig die großen Paketdienste die Sozialabgaben für die Zusteller nachzahlen müssen, wenn die Subunternehmer gegen Lohn- und Arbeitsstandards verstoßen.

Wenig Interesse

Alle diese Gesetze und Vorschriften werden nichts nützen, wenn niemand ihre Einhaltung überprüft. Angesichts des Personalmangels in der Pflege, so sagt es Mirela Barut, gebe es in der Politik wenig Interesse, den Import osteuropäischer Pflegekräfte zu unterbinden. Und fragt man bei denen nach, die sich für die Rechte der osteuropäischen ArbeiterInnen einsetzen, dann ist das Fazit sehr klar: Bislang habe sich wenig getan – vielleicht eine „leichte Besserung“, so sagt es ein Gewerkschaftler.

Und doch: Da ist eine – kleine – Öffentlichkeit, die sich dafür interessiert, wie es nicht-deutschen ArbeiterInnen, wie es nicht-deutschen Obdachlosen hier ergeht. Die einen Wert jenseits von Profit kennt oder zumindest ehrlich rechnet: Wer von den Kräften aus Osteuropa profitiert, kann sich nicht wegdrehen, wenn aus diesen Ländern auch Menschen kommen, die stranden.

In Bukarest, so erzählt es ein Gewerkschaftler, der kürzlich dort war, gebe es nur noch ein Krankenhaus, das Patienten nach einem Herzinfarkt ordentlich versorgen könne. Es gibt inzwischen PolitikerInnen, die Handlungsbedarf sehen und auch handeln.

All das ist so lückenhaft, mühsam und kompromisslastig wie alles, was in der EU geschieht. Es ist nicht mehr als das, was der Anstand und die politische Vernunft gebietet. Und doch: Dieses Anständige hat auch etwas Imponierendes, oder sagen wir zumindest Aufmunterndes, das man leicht übersieht. So leicht, wie man die alten Grenzen übersieht und wie erstaunlich es ist, dass sie verschwunden sind.