Milo Rau an Bochums Schauspielhaus: Keine Vergebung

Distanziert und nah zugleich: Milo Raus „Orest in Mossul“ erzählt berührend von Krieg und Gewalt.

Zwei Männer in heller Bekleidung berühren sich mit ihren Köpfen und halten sich an den Händen

„Orest in Mossul“ ist ein fordernder Abend, nachdenklich und brutal Foto: Fred Debrock

Wenn sich die Türen öffnen in den Bochumer Kammerspielen, ist das siebenköpfige Ensemble bereits auf der kaum möblierten Szene. Ein verglaster Kasten deutet hinten ein Café an, auf der linken Seite der Bühne steht ein E-Piano, auf dem Marijke Pinoy stoisch den Song „Mad world“ klimpert. Wieder und wieder erklingt der Song der britischen Popgruppe mit dem schönen Namen „Tears for Fears“. Wenn im Laufe des 90-minütigen Theaterexerzitiums keiner am E-Piano sitzt, kommt der schlichte, in müder Melancholie badende Song vom Band. Eine Endlosschleife der desillusionierten Klage, maßlos traurig und zugleich distanziert.

Dieser Tonfall überstrahlt in gewisser Weise den ganzen Abend, denn das Theater von Milo Rau will nicht Theater sein, das Illusionen produziert, in Schönheit badet, abhebt, erschüttert und begeistert. Rau ist als Regisseur ein radikaler Verweigerer des theatralen Theaters. Seit 2018 ist er auch künstlerischer Leiter des NT Gent. Was Theater heute sein sollte, hat Rau im „Genter Manifest“ festgeschrieben, das zehn strenge Regeln festlegt.

Da ist von Recherchen und Debatten die Rede, die wörtliche Adaption von Klassikern ist verboten, eine festgelegte Probenzeit muss ausserhalb des Theater stattfinden, mindestens zweisprachig soll es sein, mindestens zwei Laien gehören dazu, das Bühnenbild soll handlich, sprich karg sein und mindestens einmal pro Saison muss in einem Krisen- oder Kriegsgebiet geprobt oder aufgeführt werden. Und über all' dem thront als erstes, fast schon heroisch tönendes Gebot „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern.“

Einschüchtern erst, packend bald

"Orest in Mossul" läuft im Schauspielhaus Bochum bis 30. Mai. Ab 7. Juni wieder im NT Gent.

Anstrengend, ausgenüchtert und spassfrei liest sich dieses Genter Manifest. Auch der Titel des mit Bochum koproduzierten Abends „Orest in Mossul“ wirkt offenbar derart einschüchternd, dass viele Sitze frei bleiben. Tatsächlich ist „Orest in Mossul“ ein fordernder Abend, nachdenklich und brutal. Man schaut zunächst zu, als sähe man eine Dokumentation und wahrt Distanz. Doch dann ereignet sich doch große Theaterkunst, das, was erst unfertig und improvisiert wirkt, entwickelt bald eine sogartige Kraft, die unmittelbar bannt.

Milo Rau ist mit seinen Schauspielern ins nordirakische Mossul gereist und hat die epochale Tragödie „Die Orestie“ von Ai­schylos gemeinsam mit irakischen Darstellern – Schauspieler, Musiker, Studierende – in den Trümmern der zerstörten Stadt geprobt und gefilmt. (Darüber schrieb er in der taz vom 13. April.) Da diese aber nicht in den Westen ausreisen können, ist in Bochum nun meistens ein doppeltes Spiel zu sehen, der Film aus dem Irak wird auf der Bühne gedoppelt oder kommentiert.

Das Tabu des Kusses

Das Geschehen bewegt sich grob am Handlungsskelett der antiken Tragödie entlang, aber verlegt ins Hier und Jetzt der durch den IS verheerten Stadt. Zugleich dokumentiert das Video das, was die Beteiligten in Mossul erlebten, als sie versuchten, die Szenen und Figuren der Orestie auf die Bühne zu bringen.

Geprobt und gedreht wurde vor allem vor der zerstörten Kunsthochschule, einige Szenen spielen auf dem Dach eines ehemaligen Kaufhauses, von dem der IS Homosexuelle herabgestoßen haben soll. Milo Rau deutet Orest und Pylades als schwules Paar, das sich laut Regieanweisung küssen soll, was im Irak als absolutes Tabu gilt. Das Befremden darüber und die Diskussionen werden mitdokumentiert. Das Video zeigt auch Interviews mit den Beteiligten, ein Fotograf berichtet davon, wie er heimlich unter Todesgefahr Hinrichtungen fotografierte und ein Musiker erzählt, dass während des Kalifats das Musizieren verboten war.

Die Grausamkeiten der antiken Tragödie werden explizit und drastisch vorgeführt

Die Grausamkeiten der antiken Tragödie werden explizit und drastisch vorgeführt. Auf Video sind zwei (gespielte) Strangulierungsszenen zu sehen, erst erwürgt Agamemnon (der belgische Schauspieler Johan Leysen) quälend langsam die verschleierte irakische Darstellerin der Iphigenie, später muss Elsie de Brauw als heutige Klytaimnestra im Video und zugleich live ein ähnlich schreckliches Ende nehmen. Das ist von beklemmender Wucht – und dann einfach „nur“ Theater mit grandiosen Schauspielern.

Am Ende tritt die gläubige Khitan Idress in Erscheinung, die ihren Ehemann durch den IS verloren hat, und umringt von jungen Männern aus Mossul in die Runde fragt, was mit den IS-Kämpfern geschehen solle, Tod oder Begnadigung? Anfangs waren sich die jungen Männer noch sicher, dass die IS-Kämpfer den Tod verdient hätten. Doch am Ende hebt keiner mehr die Hand. Aber es hebt auch keiner die Hand für Vergebung. Ein Moment von bestürzender Ratlosigkeit. Der aber die fatale Logik der ewigen Fortschreibung von Gewalt auf den Punkt bringt.

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