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Hinter der Fassade der coolen Stadt

„Flanieren durch den Etwasberg“, taz vom 27. 4. 19

Als meine Kinder 2006 bis 2010 den Spielplatz in der Grimmstraße besuchten, war für mich als Ausländerin alles neu. Ich betrachtete die Second-Hand-Klamotten der Kinder, so gebraucht und fast farblos, ihre wilden ungekämmten Haare, ihre abgelenkten gleichgültigen Eltern, und da ich aus Italien stammte, dem Land, wo die Stadtkinder schick angezogen und sehr gut gepflegt rumlaufen, fragte ich mich: „Das ist Deutschland?“

Ich habe ein drittes Kind bekommen. Zehn Jahre später besuche ich also denselben Spielplatz. Mittlerweile reden hier alle Englisch. Manche Kinder sehen besser aus, sie sind öko angezogen, andere sehen ungepflegt und unerzogen aus, im Namen des neuen Individualismus. Ich bin alleine, und ich erziehe das dritte Kind ohne Kitaplatz und ohne Mann. Mit den drei Kindern wohne ich auf 65 Quadratmetern. Jeder von uns hat also 16 Quadratmeter als Lebensraum. Inzwischen erhalte ich staatliche Unterstützung und mit dem Geld bekomme ich auch die Wahrheit Deutschlands mit. Sie versteckt sich hinter der Fassade der coolen Stadt.

Ich habe eine amerikanische Freundin. Sie hat eine partielle Wahrnehmung Deutschlands. Ihr Ärger hat eher mit dem Visaverfahren zu tun. Ansonsten hat sie Spaß in Berlin, sie muss nicht die Sprache lernen, sie arbeitet online für eine Firma in Kalifornien, sie besucht Klubs und vegane Läden.

Glücklich ist, wer in Deutschland schweben darf, wie in Chagalls Malerei, ohne sich totarbeiten zu müssen, um Renten- und Krankenversicherung und die typische deutsche Ausrüstung (solide Autos, solide Klamotten, Häuser, Weinkeller) zahlen zu können. Wer aber mit Jobcenter, Jugendamt, Geldstellen, Sonderschulen und staatlicher Verfolgung zu tun hat, der kennt den Kern des deutschen Geistes – und es ist keine angenehme Begegnung.

Einmal nach unten gerutscht, hat man das Wichtigste verloren – die menschliche Würde. In keinem anderen europäischen Land habe ich so viele Menschen gesehen, die als Müllmänner den ganzen Tag Pfandflaschen sammeln und einen Einkaufswagen voller Reste (unseres Konsums) schieben. Frauen, die in den unterirdischen U-Bahn-Stationen die Läuse am Körper jagen. Kinder, die auf der Straße sich um kleinere Kinder kümmern und dabei Trash Food essen. Menschen, die mit wenigen Euro pro Tag auskommen müssen. Man vergisst, die höchsten Aufgaben auszuüben – Denken, Hoffen, die Künste praktizieren. Man vergisst, die Mitmenschen wahrzunehmen. Man versinkt in Trance, wo nur das eigene Elend wahrgenommen wird. Man entwickelt Hass in sich.

Ich hatte eine Freundin. Sonnig und dynamisch war sie. Sie rutschte mal nach unten. Sie musste einen Job in einer Bäcke­reikette annehmen. Verbrennun­gen erschienen auf ihren ­Armen. Um 3 Uhr morgens war sie manch­mal schon im heißen Laden tätig.

Die coolen Leute in der Stadt sitzen ganz oben auf den Dachterrassen und in Cafés in Prenzlauer Berg. Aber es gibt kein Oben, wenn es unten so miserable ist. Wenn wir das vergessen, haben wir die Stadt (die Demokratie und die Hoffnung) verloren.

Das ist Deutschland?

Cinzia Colazzo, Berlin

Geld ist genug da

„Berlin will die Schuldenvollbremsung“, taz vom 26. 4. 19

Wir brauchen eine Schuldenrückzahlungsbremse, mindestens aber eine Zinszahlungsbremse. Die Berlinerinnen zahlen jährlich circa 1,7 Milliarden Euro Zinsen für circa 59,9 Milliarden Euro Schulden. Würde die Zinszahlung zum Beispiel für drei Jahre ausgesetzt, so würden 5,1 Milliarden Euro für Investitionen zur Verfügung stehen. Mit schuldenlosen Grüßen, Michael Begoll, Berlin

Großer Krampf

„Zoff um Begegnungszone in Kreuzberg: Schmidts ungebührliches Beharren“, taz.de vom 7. 5. 19

Sinnvoll wäre es, mit automatisch versenkbaren Pollern (funktio­niert in vielen europäischen Innenstädten bestens) die Straße ganz zu sperren und nur noch Lieferanten (nur von 8–12 Uhr), Rettungsdienste, Taxis, Behinderte und gegebenenfalls unmittelbare Anwohner reinzulassen. Ausnahme oder Duldung für langsam Radfahrende. Also eine echte Fußgängerzone draus zu machen. Ergänzend die Parkraumbewirtschaftung auf ganz Kreuzberg auszuweiten. Alles andere ist Krampf. Stadtlandmensch, taz.de

Gebt ihm den Pass

„Deutscher Kolonialismus: ­Gerson Liebls letzter Trumpf“, taz.de vom 7. 5. 19

Gebt dem Mann endlich einen deutschen Pass! Sich hinter Verwaltungsvorschriften zu verstecken ist einfach, aber auch in einer Behörde muss sich manchmal jemand ein Herz fassen und solche „Sonderfälle“ mit einer Ermessensentscheidung genehmigen, und ich meine nicht den kleinen Sachbearbeiter mit A 8, Referatsleiter oder aufwärts.

Sven Günther, taz.de

Zahlt guten Lohn

„Schulreinigung in Neukölln: Preisdumping nicht mitmachen“, taz.de vom 7. 5. 19

Es gibt keinen Fachkräftemangel, wie Bezirksbürgermeister Martin Hikel von der SPD sagt. Die Fachkräfte sind alle bei den Ausbeutern prekär beschäftigt und könnten gute Arbeit leisten, wenn sie vernünftig bezahlt würden. Rüdiger Steffens, taz.de