Frei wie ein Mann leben

Die Bilder zeigen ihre Zähne und starren zurück. Das Kunstmuseum Bern stellt in einer Überblicksschau das grandiose Werk der Zeichnerin und Malerin Miriam Cahn vor

Ein Gefühl des Unbehagens: Miriam Cahn Foto: Stefan Jeske

Von Beate Scheder

Ihr „künstlerinich“ beschrieb Miriam Cahn so: „ich / wollte künstler werden / Picasso werden / Munch Goya Michelangelo / unendliche säulen wie Brancusi machen / tiere wie Franz Marc / engel wie Klee / künstler sein / unbedingt / absolut / frei / wie ein mann leben / aber aber / nie mann sein“. Und so: „niemals niemandem dienen / nie nie nie / gattin mutter muse freundin partnerin / werden wollen sein / nie / niemals / nie“.

Nachzulesen sind diese Zeilen in der Publikation „Das zornige Schreiben“. Das Buch, das zur Ausstellung „Ich als Mensch“ erschien, versammelt Texte und Korrespondenzen der Künstlerin. Es ist die beste Einstimmung auf den Besuch der Schau im Kunstmuseum Bern und eine anregende Lektüre, die man sich auf den Nachtisch jeder Künstlerin wünscht. Da schreibt eine, die weiß, was sie will, eine, die sich vom männlich dominierten Kunstbetrieb oder sonst wem nichts vorschreiben lässt. So sind auch ihre Bilder, ungeheuer expressiv und von geradezu körperlicher Direktheit. An jene von der documenta 14 werden sich viele erinnern. Cahn hatte auf diesen vor allem Geflüchtete gemalt, riesengroß und in grellen dünnflüssigen Farben.

In Bern kann man einige davon oder ähnliche wiedersehen, hauptsächlich Gemälde und Zeichnungen aus vier Jahrzehnten Schaffen der vor 70 Jahren in Basel geborenen Künstlerin.

So wie Cahn die Schau geplant hat und hängen ließ – das übernimmt sie stets selbst, entscheidet spontan und assoziativ, was wo hin soll – blickt man jedoch als erstes zwischen zwei gespreizte nackte Frauenschenkel. „L’Origine du Monde schaut zurück“ (2017) ist Cahns feministisch-eigensinnige Interpretation von Courbets „Ursprung der Welt“: Bei ihr hat die Frau ein Gesicht, das jedoch hinter einem Niqab verborgen ist, und eine überdeutlich hervortretende Klitoris.

Das Bild hängt im „Sexraum“, der, wie Kuratorin Kathleen Bühler erklärt, für Cahn der wichtigste der Ausstellung sei, da er die Themen Gewalt und Sexualität bündle. Eine Madonna mit schweren Brüsten, erigierte Genitalien, Masturbation, Begierde, Geilheit, ineinander verschlungene nackte Körper mit Strichmännchengesichtern, bei denen nicht immer klar ist, ob sie Liebes- oder Gewaltakte darstellen. Vieles bleibt mehrdeutig, hinterlässt ein Gefühl des Unbehagens.

So verhält es sich auch mit Cahns schwarz-weißen Kohle- und Kreidezeichnungen, mit denen sie in den 1970er Jahren begann und die im oberen Stock hängen. Mit simplen Klebestreifen heftete Cahn Transparentpapier zu einer Fläche zusammen, die größer als ihr Atelier war und kritzelte männliche oder weibliche Erfahrungswelten darauf – Kriegsschiffe, Waffen bzw. Interieur oder sich auskotzende Frauenköpfe. Sie lief auf den Bögen herum, hinterließ Fußspuren wie von einer Performance, zeichnete zum Teil mit geschlossenen Augen oder verteilte Kreidestaub mit den Händen auf Papier.

Beinahe kindlich muten diese Zeichnungen an, dabei jedoch absolut berührend, wie diejenigen etwa, in denen sie den Suizid der Schwester verarbeitet. Auf dem Boden liegt eine davon, man muss sich zu ihr herunterbücken. Sie stammt aus einem Skizzenheft, was für Cahn jedoch gleichwertig ist zu einem Gemälde, einer Zeichnung oder einer Skulptur. Unkonventionell ist auch ihr Umgang mit dem eigenen Werk.

Was Cahn umtreibt, ist die Welt und was diese mit den Menschen macht. Sie liest täglich mehrere Zeitungen, prägt sich Nachrichten und Fotos ein, transformiert sie in Bilder. Cahn hat Sarajevo gezeichnet, 9/11, Atombombenausbrüche in fröhlich bunten Aquarellen festgehalten und in den vergangenen Jahren immer wieder Flucht und Geflüchtete zum Thema monumentaler Gemälde gemacht.

An keinem ihrer Werke arbeitet Cahn länger als zwei Stunden. Alles scheint bereits in ihr zu sein, sie muss es nur rauslassen. So knallt sie einem dann mit voller Wucht ihre Bild gewordenen Gedanken zum Dasein und Menschsein entgegen, zum Frausein, Verletzlichsein, Zerrissensein, schonungslos subjektiv, drastisch verdichtet. Die Bilder zeigen sprichwörtlich ihre Zähne und starren zurück.

„Ich als Mensch“ im Kunstmuseum Bern ist erst der Auftakt. Die Schau reist weiter ins Haus der Kunst in München und nach Warschau ins Museum of Modern Art. Zeitgleich läuft momentan im Kunsthaus Bregenz Cahns Einzelausstellung „Das genaue Hinschauen“, im Juni folgt im Museo Reina Sofia „Everything Is Equally Important“. Sehenswert sind sie gewiss allesamt.

Kunstmuseum Bern, bis 16. Juni