talk of the town
: Pikettys Plädoyer

Der französische Wirtschaftsprofessor und einige Mitstreiter machen konkrete Vorschläge für eine Demokratisierung der EU. Kritik an der europapolitischen Leere der Linken

„Eine Milliarde für Notre-Dame, nichts für Obdach­lose!“ Proteste am 22. April 2019 in Paris Foto: Francisco Seco/ap

Von Rudolf Balmer

„Mit 27 oder 28 kommen wir in Europa nicht weiter.“ Thomas Piketty ist nicht der Erste, der dies sagt. Doch der französische Wirtschaftsprofessor, der mit seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ über die wachsende Ungleichheit weltweit berühmt geworden ist, scheut sich nicht, offene Türen einzurennen, um in der Europapolitik aus der heutigen Sackgasse heraus zu kommen.

Mit anderen Fachleuten aus Wirtschaft, Politik und Kultur und einigen PolitikerInnen aus mehreren europäischen Ländern hat er ein „Manifest für die Demokratisierung Europas“ publiziert. Dieses ist auf dem Internet von mehr als 115.000 Menschen unterzeichnet worden.

Wer gleich süffisant lächelt und denkt: Ach wieder so eine Sonntagspredigt voller schöner Absichten, aber ohne konkrete Lösungsvorschläge und echte Chancen, bleibt vermutlich im Vorurteil befangen. Denn die Ideen zur Demokratisierung Europas durch die Schaffung einer Steuergerechtigkeit ausgehend von einer starken Kerngruppe sind sehr konkret.

Sie werden in einem Vertragsentwurf Artikel für Artikel im Jargon des EU-Rechts ausgeführt. Jetzt müsste dieser Vertrag nur noch verabschiedet, unterzeichnet und umgesetzt werden.

Das genau aber ist der springende Punkt, triumphieren da die Skeptiker. „Wetten, dass …?“ Piketty und sechs MitverfasserInnen halten ihnen mit einem kleinen Büchlein (Verkaufspreis 3€) ihren Zweckoptimismus entgegen: „Changer l’Europe c’est possible!“ (Europa verändern, ist möglich!) lautet der Titel dieser Termin-gemäß zum Beginn des EU-Wahlkampfs publizierten Streitschrift wider den Pessimismus patentierter Populisten von rechts und links.

Piketty hält es für realistisch, die nötige öffentliche Kraft als Gegenmacht zu den Märkten zu schaffen und durch Beschlüsse die Ungleichheit zu reduzieren. Das ist, wie er aus der bisherigen Geschichte gelernt hat, eine Frage der Kräfteverhältnisse. Da bei der jetzigen Einstimmigkeitsregel jeder Fortschritt ausgeschlossen erscheint, müsse der Anfang von einer kleinen, aber starken Gruppe gemacht werden, zunächst zu viert mit Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien.

Diese (noch utopische) Kerngruppe soll eine souveräne europäische Versammlung bilden, zu deren Befugnissen die Entscheidung über eine Reichtumssteuer (auf Gewinne der Großunternehmen, sehr hohe Vermögen und Einkommen) sowie eine Abgabe auf CO2-Emissionen gehören soll. Wie Präsident Emmanuel Macron von einem Budget zu faseln, ohne zu sagen, wie es finanziert oder von wem es beschlossen wird, sei „hohl“.

Unvermeidliche Einwände aus Kreisen der linken Parteien in seinem eigenen Land schickt Piketty an die Absender retour: „Die Lage links von Macron ist zum Verzweifeln.“ Sechs Listen, die mit zusammengezählten Stimmenanteilen, also mit rund 30 Prozent, klar stärker wären als Macrons Republique en marche oder das rechtsextreme Rassemblement national von Marine Le Pen mit je circa 22 Prozent.

Das Manifest haben im Internet mehr als 115.000 Menschen unterzeichnet

In einem Interview mit Libération am Montag findet Piketty aber nicht nur die absurde Zersplitterung, sondern auch „die europapolitische Leere in den Programmen dieser linken Listen“ zum Heulen. Die Chance, sich auf der Basis der Ideen von Piketty und Co. jenseits aller Divergenzen auf eine minimale Plattform für mehr Gerechtigkeit der Steuer-, Klima-, Umwelt- und Migrationspolitik in Europa zu einigen, scheint für die EU-Wahl von Ende Mai wohl verpasst zu sein.

Immerhin finden wir unter den Erstunterzeichnenden den Spitzenkandidaten der französischen Grünen, Yannick Jadot, oder den Parteichef der Sozialisten, Olivier Faure, sowie Leute von Podemos, von der SPD und Die Linke.

Beim Lesen der Namen fällt auf: Massimo D’Alema, Italiens ehemaliger Ministerpräsident. Und auch Merkel! Nein, nicht Angela, die deutsche Kanzlerin, sondern Wolfgang Merkel vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung.

Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Vorschläge des Manifestes für eine Demokratisierung Europas auch nach den Wahlen als aktuell ansehen oder vielleicht sogar für dringlicher denn je halten. Die Debatte darüber hat noch nicht richtig begonnen.