Annabelle Hirsch Air de Paris
: Politik undErdbeeren

Für viele Pariser, zumindest viele, die ich kenne, beginnt der Sonntag relativ klischeehaft mit einem Marktbesuch. Ganz gleich, ob man im Norden, im Süden, im Osten oder im Westen der Stadt, in einem schicken oder, wie man sagt, in einem eher populären Viertel wohnt, irgendein „marché“ liegt immer in der Nähe. Die Gelbwesten müssten ihre Proteste schon auf den Sonntag verschieben, um mit dieser Tradition zu brechen. Ab 7 Uhr morgens stehen da also in allen Ecken von Paris Männer und Frauen vor ihren mit Obst und Gemüse, Fisch und Fleisch und Blumen und Brot prall gefüllten Ständen und warten in der Frühlingsmorgenkälte auf die Kundschaft, die irgendwann ab 8 Uhr langsam erscheint.

Wenn man dann selbst gegen 10 oder 11 Uhr durch die mittlerweile sehr vollen, bunten, nach Crêpes und Sauerkraut und Rosen duftenden Gänge schlendert, rufen permanent alle irgendetwas durcheinander: „Frische grüne Bohnen!“, „Erdbeeren! Madame! Madame! Wunderschöne Erdbeeren!“, „Alles 1 Euro!“ und andere Dinge, die man nicht unbedingt verstehen oder wiedergeben muss. Bei schönem Wetter hockt immer irgendein Musiker mitten im Gewusel und versucht die banale Alltagsszene mit ein bisschen Filmmusik zu überhöhen. Es sitzen Zigeunerinnen auf Steinen und verkaufen hübsche, selbst gepflückte Blumensträuße, Touristen (und Anwohner) schlürfen Austern zu Weißwein.

Wo Paris normalerweise recht aggressiv ist und die Leute sich gerne mal anschreien und bedrohen, nur weil der eine den anderen angerempelt oder ihm den Weg versperrt hat, herrscht auf dem Markt, trotz der vielen Menschen, eine überraschende Ruhe. Man verhält sich dort ungewöhnlich zivilisiert. Man stellt sich an, wartet halbwegs geduldig, bis man an der Reihe ist, man beschmeißt sich nicht mit Tomaten und brüllt sich auch, anders als sonst, keine Schweinereien entgegen, weil man schlechte Laune hat. Dafür wird, während man für die Bohnen oder die Erdbeeren ansteht, ganz gemütlich gelästert. Zurzeit vor allem über eines: die Europawahl.

Am schlechtesten schneidet am Gemüsestand derzeit der Journalist und Philosophen-Sohn Raphaël Glucksmann (sein Papa ist André Glucksmann) ab. Als „tête de liste“, also Spitzenkandidat der Parti socialiste und seiner eigenen Bewegung „Place publique“, rudert der nicht unsympathische, aber offensichtlich vollkommen fehlbesetzte Glucksmann schon seit Wochen ein bisschen hilflos durch den Wahlkampf. Man verstehe ja, was er nicht will, sagt da eine Dame zu ihrer Freundin, also die Brüsseler EU; nur was er will, das habe sie noch immer nicht ganz kapiert. Vielleicht bringe er es nicht mal zu den 5 Prozent, die es in Frankreich bedarf, um überhaupt ins Europäische Parlament zu kommen, sagt ihre Freundin, man stelle sich das einmal vor: Der Rassemblement National von Marine Le Pen ganz vorne und keine Parti socialiste im Parlament! Was für eine Schande für Frankreich!

Eine Woche zuvor klang das alles viel positiver, als zwei junge Frauen sich, halb über ihr Journal du Dimanche gebeugt, über die dort von der „En Marche“-Kandidatin Nathalie Loiseau und Marlène Schiappa, der Staatssekretärin für die Gleichstellung der Geschlechter, angekündigte Initiative des „Pacte Simone Veil“ freuten. Europa sei der Ort der Welt, an dem die Frauen am besten geschützt seien, schrieben die Politikerinnen da, trotzdem seien ihre Rechte in einigen Ländern, Polen, Spanien, gefährdet: Man müsse die Frauenrechte innerhalb der EU einander angleichen, forderten sie. Super Vorschlag, fanden die beiden jungen Damen und planten schon ihren Wahlgang. Am Sonntag, den 26. Mai. Vor oder nach dem Markt.

Annabelle Hirsch ist freie Autorin in Paris.