Hohelied auf die Moderne

Viktor Turins Stummfilm „Turksib“ porträtiert mit dem Bau der Turkestan-Sibirische Eisenbahn ein Großprojekt des ersten Fünf-Jahres-Plans in der Sowjetunion

Dramatisch gekonnt und einfallsreich montiert: „Der Film ist ein Pionierwerk wie der Bau der Bahn­strecke“ Foto: Deutsche Kinemathek

Von Fabian Tietke

Eine der Protagonistinnen von „Turksib – Die Stahlstraße“, Viktor Turins filmischer Ode an den Bau der Eisenbahnlinie, die das zentralasiatische Turkestan mit Sibirien verbindet, ragt gleich zu Beginn fluffig ins Bild hinein: Baumwolle. Leicht prüfend zupft eine Hand die Baumwollbäusche von der Pflanze. Wie beim Spaghettiessen saugt in der nächsten Einstellung eine Maschine Baumwolle ein, spinnt sie zu Fäden und wickelt die Fäden auf der Rückseite auf Spindeln. Die Fäden werden anschließend zu endlosen Tuchbahnen, die Tuchbahnen zu Kleidung.

In fünf Akten entfaltet Turins Stummfilm die Idee zum Bau und dessen Ausführung. Das Berliner Krokodil, seit Jahren eine feste Adresse für osteuropäisches Kino, zeigt „Turksib“ Mitte nächster Woche mit Livebegleitung durch Chris Hinze (Labor), Ulrich Miller (Stimme, Akkordeon und Schlagzeug) und Klaus Kürvers (Kontrabass).

Die Turkestan-Sibirische Eisenbahn ist ein Großprojekt des ersten Fünf-Jahres-Plans und hatte zum Ziel die Baumwolle, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Turkestan angebaut wurde, nach Norden bringen. Um mehr Anbaufläche für den Anbau der Baumwolle zu gewinnen, sollte im Gegenzug Getreide aus Sibirien nach Süden transportiert werden.

Turins Film zeigt den Baumwollanbau, die Konkurrenz um das Wasser zwischen Getreide und Baumwolle in Turkestan und den mühseligen Transport der Baumwolle mit Kamelkarawanen nach Norden durch Wüsten und Sandstürme; zeigt wie sich zugleich aus Sibirien Schlittenkolonnen mit Getreide und Holz zum nächsten Bahnhof aufmachen. Doch kein Gleis führt von Sibirien nach Turkes­tan – bis zum Bau der Turksib. Bevor „Turksib“ zum Porträt einer infrastrukturellen Großtat wird, ist der Film zunächst ethnografisches Dokument des Lebens in Turkestan.

Ein Auto mit Landvermessern bildet schließlich die Vorhut des Bahnprojektes, erkundet Terrain und vermisst den künftigen Streckenverlauf. Die Pläne werden zusammengetragen und in einer Montage­sequenz reihen sich endlose Folgen von Zahlen und Karten mit Streckenentwürfen. Dann geht es ans Werk: Baugerät soweit das Auge reicht. Von Norden und Süden schieben sich zwei Stränge von Bauarbeiten über 1.400 Kilometer aufeinander zu.

„Turksib“ ist wie Dsiga Wertows „Das elfte Jahr“ über den Bau des Dnepr-Staudamms ein Hohelied auf die Moderne und die Großprojekte der jungen Sowjetunion. Zugleich drängt sich auch John Fords Eisenbahnwestern „The Iron Horse“ von 1924 über den Bau der transkontinentalen Eisenbahn in den USA als Bezugspunkt auf.

Viktor Turin hat eine ungewöhnliche Ausbildung für einen sowjetischen Regisseur jener Jahre. 1912 verließ er Russland, um in den USA am MIT zu studieren. Später zog er nach Hollywood und arbeitete für die Vitagraph Studios als Autor und Schauspieler, bevor er 1922 in die Sowjetunion zurückkehrte. „Turksib“ wurde vom zentralasiatischen Studio Vostokkino realisiert, einem jener halbstaatlichen Studios der späten 1920er Jahre in der Sowjetunion.

„Ein Film ohne Atempause“, warb der deutsche Verleih für den Film in einer zeitgenössischen Verleihanzeige. Ganz ähnlich die Filmkritik in der Roten Fahne, aber mit Bezug auf die sowjetische Filmkunst: „Kein Stillstand. Kein Sichbegnügen mit erreichten Resultaten. Immer neue Namen. […] Der Film ist ein Pionierwerk wie der Bau der Bahnstrecke.“

„Turksib“ war ein Erfolg im Ausland, stieß wie viele andere sowjetische Filme auf Begeisterung unter Filmemachern, doch nirgendwo war der Eindruck so nachdrücklich wie unter britischen Dokumentarfilmern. John Grierson, einer der Urväter des Dokumentarfilms wie wir ihn heute kennen, besorgte gemeinsam mit seinem Mit­streiter Basil Wright die Aufbereitung für den britischen Markt.

Noch 40 Jahre später erinnerte sich Wright: „Turin [ließ uns] in ‚Turksib‘ mit einer beeindruckenden Bandbreite von Dramatik und einfallsreicher Montage an einem sozialen und ökonomischen (und deshalb menschlichen) Problem teilhaben, ließ uns die Mühen fühlen und in den Jubel über die Lösung des Problems einstimmen.“ Die Vorführung von Viktor Turins „Turksib“ im Krokodil ist die seltene Gelegenheit, sich von einem überragenden Beispiel dokumentarischen Stummfilmkinos begeistern zu lassen.

Turksib, UdSSR 1929, Viktor Turin, 75 Minuten, Stummfilm mit Musikbegleitung. Kino Krokodil, Greifenhagener Str. 32, 15. 5., 20 Uhr.