Arschtreter-Jazz mit Pop-Appeal

Ein Phantom jenseits aller Finnen-Klischees: Der Multiinstrumentalist Linear John tritt im Westwerk auf

Von Jan Paersch

Finne müsste man sein. Am Mittsommertag in die eigene Blockhütte fahren, die Sauna anheizen, den Schnaps-Bestand der hauseigenen Schwarzbrennerei (die Experten sagen: Pontikka) überprüfen, anschwitzen, in den nahen See springen (Wassertemperatur: circa 9 Grad). Später im Jahr, wenn die Nächte merklich länger werden, wollen glückstrunken die Polarlichter bewundert werden.

Im Winter vergräbt sich der Finne in der Hauptstadt Helsinki, spaziert über das zugefrorene Meer auf die Festungsinsel Suomenlinna und erfreut sich am frisch entkorkten Salmiakki (für Skandinavien-Beginner: Lakritzlikör). Nun hat selbstverständlich nicht die gesamte nordostskandinavische Folklore mit Alkohol und Kälte zu tun. Aber doch so manche – man lese nur den rasend komischen schwedisch-finnischen Roman „Populärmusik aus Vittula“.

Linear John jedenfalls war solcher Klischeevorstellungen von Beginn seiner Karriere an überdrüssig. Seine Songs tragen kryptische Titel wie „Confessions in Blue“ oder behandeln ironisch die erotischen Verirrungen des modernen Großstädters: „When it Comes to Ladies“. Seine Musik klingt nicht nach Tradition, nicht nach Humppa oder Tango, auch nutzt er weder Akkordeon noch Kantele (für Einsteiger: eine griffbrettlose Kastenzither).

Linear John spielt Saxofon, Flöte, Hammond-Orgel, singt, programmiert Drumcomputer und bedient obendrein Instrumente wie den Moog-Synthesizer, an dem schon Stevie Wonder wirkte. Und natürlich Pink Floyd auf „Shine On You Crazy Diamond“. Den vier Briten ist Linear John allem Humor zum Trotze deutlich näher als den Spaßvögeln von den Leningrad Cowboys – fast immer die einzige finnische Band, die Westeuropäer benennen können.

Über den lange in Helsinki beheimateten Musiker ist kaum etwas bekannt. Außer, dass Linear John eigentlich Markus Holkko heißt. Sein Haus in der Hauptstadt soll er verkauft haben, und seit dem letzten Jahr ein nomadisches Leben führen. Auf seiner Facebook-Seite sieht man Linear John in der kalifornischen Joshua-Tree-Wüste stehen – das könnte jedoch auch eine Fotomontage sein. Angeblich hat er aber eine Weile in Los Angeles gelebt, und dort sogar ein neues Album aufgenommen.

Zwei Platten hat er schon veröffentlicht, für das in Hannover ansässige Label Agogo Records, das erste trägt den herrlichen Titel „Hits with a Twist“. Darauf: sehr, sehr lässiger Pop. In eine Schublade lässt sich das unmöglich stecken: Psychedelia, Bossa und Country blitzen auf, zuweilen sogar Soul und Disco. Die altmodischen Synthies erinnern an die besten Zeiten von Beck (wer an dessen Hit „Loser“ denkt, liegt nicht falsch): eingängige Songs, die pluckern und swingen und grooven. Schließlich ist Linear John einmal Jazzmusiker gewesen, hat vermutlich sogar eine anständige Ausbildung genossen, darauf lässt jedenfalls sein Saxofonspiel schließen.

In das Booklet von „Hits with a Twist“ hat Linear John Anmerkungen zu den Songs geschrieben. „No sense of what is appropriate and what not“ ist eine davon. Wer weiß heutzutage schon, was angemessen ist? Linear John kompensiert diese Unsicherheit (oder auch: typisch nordische Zurückhaltung) mit einer Retro-Sonnenbrille, hinter er sich auch live versteckt.

Ruft man übrigens bei Agogo Records an, so weiß dort niemand davon, dass Linear John gerade in Europa ist, geschweige denn Konzerte gibt. Einmal mehr tritt der rätselhafte Mann nun im Westwerk in der Hamburger Neustadt auf, dort nennt man seinen Sound liebevoll „Kick-Ass-Cool-Jazz“. Ob im Trio, Duo oder solo, Linear John wird seine sonderbaren Instrumente bedienen und mit größter Lässigkeit seinen Arschtreter-Jazz, der eigentlich Pop ist, spielen. Der Salmiakki kann warten.

Sa, 4. 5., 21 Uhr, Westwerk