Hoch fliegende Dampfringe

Über Atom- und Kohlekraftwerken schwebende Dampfringe begleiten symbolisch die Energiewende:Das Berliner Architekturbüro realities:united stellt sein Projekt „Fazit“ in der Berlinischen Galerie vor

Dampf zu Ringen: So wie in dieser Montage soll das „Fazit“ von realities:united sein Foto: realities:united/Frank Roeder/picture alliance/Westend61 (M)

Von Martin Conrads

Wer im fossil und atomar begründeten Industriezeitalter aufwuchs, kennt ihn mindestens aus den Werbeanzeigen in der ADAC Motorwelt: den Bertulli-Effekt. Dank eines „spezial konstruierten Fußbetts im Inneren“ wird man mit dem „topmodischen Zauberschuh aus Italien“ von Mario Bertulli aus Offenburg „in 2 Sekunden 7 cm größer“. Nicht zu verwechseln ist der Bertulli-Effekt jedoch mit dem höhenmäßig weitaus wirksameren Bernoulli-Effekt, der sich gerade dazu anschickt, das Ende des Industriezeitalters zu performen – jedenfalls, sofern dieses in der durch Kühltürme symbolisierten Gestalt fossiler und atomarer Energieerzeugung daherkommt.

Der Effekt, benannt nach dem Schweizer Physiker Daniel Bernoulli, der im 18. Jahrhundert gelebt hat, meint das als „hydrodynamisches Paradoxon“ benannte Phänomen, nach dem etwa aus einem Rohr austretender Dampf aufgrund entstehenden Unterdrucks die Gestalt eines isolierten Rings annimmt. Man kennt dieses Prinzip auch vom menschlichen Mund, da nennt man es „Ringe rauchen“, oder gelegentlich, etwas größer dimensioniert, von Vulkanen.

Die Brüder Jan und Tim Edler, Gründer des seit dem Jahr 2000 bestehenden Berliner Architekturbüros realities:united, wollten sich den Bernoulli-Effekt bereits vor einigen Jahren für eine Kunst-am-Bau-Installation zunutze machen. Als das Kopenhagener Architekturbüro Bjarke Ingels Group (BIG) ein Müllverbrennungskraftwerk in der dänischen Hauptstadt entwarf, schlugen realities:united einen technischen Eingriff in dessen Rauchgasanlage vor, durch den Rauchringe von rund 30 Meter Durchmesser emittiert worden wären.

Der Effekt wäre hierbei nicht nur ein ästhetischer, das Aussehen des Himmels über Kopenhagen verändernder gewesen, sondern hätte – bei einer Menge von etwa 500 Kilogramm CO2 pro Ausstoß – die Verbrennungsabgase auch in zählbare, und also sinnlich erfassbare Einheiten geformt.

Ob es für realities:united Pech war, dass ihr Konzept nicht umgesetzt wurde, wird sich womöglich in den nächsten knapp zwanzig Jahren (wenn es bis 2038 mit dem Kohleausstieg geklappt hat) zeigen. Denn die vorerst in den Wind geschossene Idee, die sich auch als nur ein Gimmick im lokalen Stadtmarketing hätte erweisen können, hat nun noch mal das Zeug zum Nation Branding: Dank des Atom- und Kohleausstiegs hier im Land planen die Brüder Edler, aus Kühltürmen austretenden Wasserdampf der derzeit 34 in Deutschland noch aktiven Kohle- und Atomkraftwerke in Ringform aufsteigen zu lassen – nach und nach, in verschiedener Sequenz und Häufigkeit, Kraftwerk für Kraftwerk, bis zur jeweiligen Abschaltung.

Aufgrund einer Katapulttechnik würden die bei laufendem Betrieb aus den Türmen entlassenen Ringe über den gängigen Wasserdampffahnen emporschweben, wären also als solche auch aus einiger Entfernung sichtbar, als „sehr große, faszinierend schöne, lang anhaltende, hoch fliegende Dampfringe“. Man könnte mit einem Lied von Deichkind auch sagen: „Seht ihr das auch? Könnt ihr das auch sehen? Richtig gutes Zeug. Ich krieg die Tür nicht mehr zu.“

Ziel des Vorhabens, das nach Wunsch der beiden Architekten tatsächlich realisiert werden soll, sei es, den Ausstieg Deutschlands aus der atomaren und kohlebasierten Energiegewinnung kulturell zu begleiten und die Energiewende, neben Aspekten technischen und wirtschaftlichen Wandels, auch als ein Thema aufzugreifen, das das Aussehen ganzer Landstriche und so auch damit verbundene Identitäten verändere.

Die Tür zu Wegen unklarer Statikprobleme am Dach muss die Berlinische Galerie für Publikum vorläufig schließen. Die Vorsichtsmaßnahme gelte zunächst für zwei Wochen, hieß es bei der zuständigen Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM). Probleme und Konsequenzen daraus sollen nun genau überprüft werden. Bis die genauen Ergebnisse vorlägen, bleibe das Museum bis zum 15. Mai geschlossen. Erst danach werden die aktuellen Ausstellungen im Haus wie die mit den Bildern der Berliner Malerin Lotte Laserstein oder die Fazit-Schau wieder zu sehen sein.

Es geht ums Dach Die Gesellschaft verwaltet landeseigene Immobilien in Berlin, darunter auch die Berlinische Galerie in Kreuzberg. Gemeinsam mit der Galerie sei eine Sanierung der Dachflächen geplant. „Im Zuge der Sanierungsplanung wurde festgestellt, dass der übernommene bauliche Zustand des Gebäudes von der genehmigten statischen Planung aus dem Jahr 2003 abweicht.“ Diese Planung stamme aus einer Zeit, bevor das Gebäude an das Land Berlin ging. (dpa)

„Fazit“ lautet der Titel dieses zumindest ambitionierten Projekts wie auch derjenige einer Ausstellung in der Berlinischen Galerie, mit der realities:united das Vorhaben erstmals öffentlich vorstellen, um für dessen Umsetzung zu werben. Nicht retrospektiv auf das Wirken des Architekturbüros bezieht sich also der Ausstellungstitel, sondern auf diesen die Energiewende in Deutschland performativ aufführenden und abschließenden Akt.

Die Ausstellung gibt sich eher didaktisch als spekulativ und konzentriert sich vor allem auf einen „Erklärraum“ (Tim Edler). Hier sind etwa Broschüren mit dem Text des Atomgesetzes und dem Abschlussbericht der „Kohlekommission“, Modelle von Kühltürmen oder Schautafeln über den Bernoulli-Effekt und dessen Implementierung in den Türmen zu sehen. Vor allem zwei große Wandbilder – ein Diagramm mit dem Verlauf der Kraftwerksleistungen in Deutschland und eine Deutschlandkarte mit den Kraftwerken und ihrer voraussichtlichen Laufzeit – scheinen auf die riesigen Dimensionen des Projekts hinweisen zu wollen, müssen aber vor allem auch die meterhohen Wände füllen, um aus der Projektidee eine Ausstellung zu machen.

Dafür, dass große Dimensionen auch ein Garant für realisierbare Nähe sein können, dient Jan und Tim Edler der bisherige Erfolg des Projekts „Flussbad Berlin“, dessen Mitinitiatoren sie sind. Die Brüder, beide um die 50, hatten vor rund zwanzig Jahren in dem von ihnen mitbetriebenen, am Spreeufer gegenüber der Museumsinsel liegenden Kulturvereinsheim „Kunst und Technik“ erste Ideen, einen Abschnitt des Spreekanals zur öffentlich zugänglichen Badeanstalt zu machen.

Thomas Flierl, damals Baustadtrat von Mitte, bezeichnete die Flussbad-Idee 1998 als „hinreichend unrealistisch, um unbefangen darüber diskutieren zu dürfen“. Gut zwanzig Jahre später gaben der Bund und das Land Berlin jetzt im April bekannt, die Planung und den Bau einer ersten Freitreppe als Wasserzugang für das Flussbad aus Mitteln des Bundesprogramms „Nationale Projekte des Städtebaus“ zu finanzieren. Ganz so viel Zeit hat „Fazit“ aufgrund der Ausstiegstermine allerdings nicht mehr.

realities:united: Fazit: bis 19. August in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstraße 124–128. Mi.–Mo. 10–18 Uhr.Bis 15. Mai geschlossen.Der beim Distanz Verlag er­scheinende Katalog kostet 19,80 Euro im Museum und 24,90 Euro im Buchhandel.