Kunst politisieren: Bitte in die Patronenhülse sprechen

Mit List und kollektiver Kraft: Die Ausstellung „In the Blink of A Bird“ in Berlin blickt auf die eingeschränkte Meinungsfreiheit in der Türkei.

Porträtzeichnungen auf einer Wand neben einem Guckloch

Aus der Installation „In the Blink of A Bird“ Foto: Benita Piechaczek/ngbk

Das Leben im 21. Jahrhundert ist wieder zum Kampf im Dschungel geworden, im Bürokratie­dschungel zumindest. Diesen Eindruck erweckt die Ausstellung „In the Blink of A Bird“. Vom 23-köpfigen Sis Collective organisiert und unter Beteiligung von 36 weiteren Künstler*innen, meist aus der Türkei, umgesetzt, empfängt der Ausstellungsparcours in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (ngbk) in Berlin Kreuzberg mit einer Architektur aus provisorischen Amtsstuben.

In den Weg stellt sich ein Portal, das mit Schläuchen verhängt ist. Daneben befinden sich zwei kleine Kabinen, die an Verhörzellen erinnern. Eine davon ist mit schnell hingeworfenen Porträtzeichnungen gefüllt.

Unklar bleibt, ob dies visuelle Erinnerungen an Vernommene oder Vernehmer, Beobachtete oder nur zufällig ins Visier geratene Personen sind. Weitere Kabinen sind mit den Aufschriften „Document Control“, „Lost & Found“ oder „Dream Sorcerer“ versehen. Man findet dort Listen und Formulare, auch einzelne Zeichnungen sowie zahlreiche Instrumente der bürokratischen Kultur wie Stifte und Stempel vor. Aufgeschnittene Kartoffelknollen dienen ebenfalls als Stempel.

Justiz als Glücksrad

In einer Kabine ist ein Glücksrad befestigt. Durch Drehen kann man selbst die Paragrafen bestimmen, unter denen man angeklagt wird. Muster hierfür sind offensichtlich die zahlreichen Verhaftungen und willkürlich anmutenden Gerichtsprozesse und Verurteilungen in der Türkei des Recep Erdoğan. Dort explodierte in den letzten zehn Jahren förmlich die Gefängnispopulation. Sie stieg von 102.000 im Jahre 2008 auf 260.000 Ende 2018 an. Auf 100.000 Einwohner kommen damit 318 Gefangene. In Deutschland sind es 77 pro 100.000 Einwohner, in den USA, die für ihren Krieg gegen die eigenen Armen bekannt sind, 655 Menschen auf 100.000 Einwohner (alle Zahlen laut prisonstudies.org).

Die türkischen Wachstumszahlen beruhen vor allem auf den Massenverhaftungen nach dem missglückten Putschversuch 2016. Angst und Verunsicherung spiegeln sich in vielen der Zeichnungen und Drucke wider, die teils zu großen Wandzeitungen organisiert sind und auch aus einer großen Druckerpresse förmlich hervorquellen.

„In the Blink of a Bird“, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (ngbk), bis 2. Juni, täglich 12–18, freitags 12–20 Uhr.

Aus dem Begleitprogramm:

3. Mai, 13 Uhr, Fernsehaufnahmen: HisTV Open Studio

4. Mai , 14 Uhr, Diskussion: What’s Not Happening in Istanbul? 16.30 Uhr Diskussion: Art At Stake / What are the limits of free expression for an artist? 19 Uhr Diskussion: „New Wave“ Migration from Turkey: Displacement, Survival and Solidarity

14. Mai , 13 Uhr, Workshop: Newspaper Workshop, Von: Sis Collective und 17 Uhr Performance: Operating the Hayal Machine. Von Birgit Auf der Lauer & Caspar Pauli

Weitere Veranstaltungen unter www.ngbk.de

Man sieht Bilder von Menschen, die vereinzelt und in Kleingruppen über einen Platz gehen. Sind es versprengte Demonstranten, aus der Gemeinsamkeit herausgelöst wurden durch einen Polizeieinsatz? Oder Menschen, die zu einer Manifestation streben? Oder einfach nur Passanten, isoliert, anonym, die einen Transitraum überwinden?

Auf anderen Zeichnungen finden sich Brachen – unklar bleibt, ob es Orte der Verwüstung und Verwahrlosung oder potentielle Freiräume sind. Klarer deuten lassen sich Abbildungen zerstörter Häuser. Auf Texttafeln wird an die Zerstörung ganzer Wohnviertel im kurdischen Diyarbakır hingewiesen.

Der Ohnmacht entkommen

Charakteristisch für die Ausstellung ist, dass sie versucht, der Falle der Ohnmacht gegenüber dem Staat zu entkommen. Bereits 2016 gründeten Künstler*innen aus der Türkei während eines Aufenthalts im Berliner Projektraum Apartment Project das Sis Collective. Es war ein Versuch, zurück zur Sprache zu finden und danach Strategien von Kommunikation und Meinungsäußerung auch in der Türkei zu entwickeln.

Druckerpresse in „In the Blink of A Bird“ Foto: Benita Piechaczek/ngbk

„Vielleicht ist es eine gemeinsame Aussage, wenn man über die Möglichkeit nachdenkt, dass viele Dinge, die nicht zusammengehören, im selben Raum existieren. Vielleicht geht es auch um Ehrlichkeit, wenn man eine Aussage trifft. Und vielleicht werden in diesem Bemühen Gedanken geformt, und wir können neue Dinge über unser Potenzial entdecken, Handlungen in Aussagen zu verwandeln“, stellte in einem im Katalog abgedruckten Gruppengespräch ein unter dem Kürzel D firmierendes Gruppenmitglied fest.

Ehre der Epaulette

Im Mai 2017 organisierte Sis Collective eine erste Ausstellung im Depo in Istanbul. Bestandteile dort waren bereits Druck-Erzeugnisse und die Videoinstallation HisTV. Im Format von TV-Features werden hier Themen wie die Bedrohung von Landwirten und Bevölkerung durch ein großes Staudammprojekt verhandelt.

HisTV zeichnet sich aber auch durch sarkastische Aneignung des Alltags aus. Ein Beitrag über Filmzensur zeigen herausgeschnittene Passagen eines Films. In parodierten Propagandabeiträgen werden Zuschauer aufgefordert, eigene Epauletten zu entwerfen, sie an ihren Kleidungsstücken zu befestigen und den Trägern von Epauletten, die ihnen gefallen, Respekt zu erweisen.

Persönliche Wünsche hingegen können in Patronenhülsen geflüstert und diese in eigens aufgestellten Behältern abgeliefert werden. Die offensichtliche Militarisierung des Alltags und der Mangel an Nachvollziehbarkeit administrativer und politischer Entscheidungen werden damit karikiert.

Spuren dieser Art von Humor finden sich dann auch auf den Texten der Wandzeitung. Ausgangssperren werden von Politikern als soziale Intervention verkauft. „Man sollte die Ausgangssperre nicht nur als etwas Schlechtes betrachten. Unsere Forscher haben herausgefunden, dass das Zusammentreffen von Familienmitgliedern, die sonst hier und da verstreut sind, eine wichtige Rolle bei der Stärkung des Familienverbunds gespielt hat“, wird ein – mutmaßlich fiktiver – Abgeordneter zitiert.

Aufklärung und Agitation

„In the Blink of A Bird“ öffnet so den Raum des Lachens, freilich des bitteren Lachens, über die eingeschränkte Meinungsfreiheit in der aktuellen Türkei. Welchen Einfluss die künstlerischen Positionen haben, ist nicht zu ermessen. Verwirrend für das Betriebssystem Kunst ist, dass bei den Arbeiten nur sehr selten die Urheber*innen erkennbar sind – das Kollektive wird also konsequent durchgehalten.

Dass die ngbk, deren Mitglieder seit der Gründung vor 50 Jahren über die Ausstellungsprojekte abstimmen, dieses Projekt im Jubiläumsjahr gewählt hat, liegt nicht nur an der Aktualität des Themas. Sondern damit wird auch der eigenen Geschichte Rechnung getragen, verspricht „In the Blink of a Bird“ doch jener gesellschaftspolitischen Wachheit gerecht zu werden, die 1969 zu den Zielen der neu gegründeten Gesellschaft gehörte. Gefordert wurde Kunst mit kritisch politischer Haltung, mit aufklärendem Gestus, mit einfachen Mitteln.

Wichtiger Teil der Ausstellung ist auch deshalb das Workshop- und Veranstaltungsprogramm. Zeitungs-Workshops und Video-Sessions, Vorträge, Filmvorführungen und Podiumsdiskussionen werden angeboten – und betonen so den prozesshaften Charakter.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.