Als die Bilder fließen lernten

Die Internetfilmserie „The Scene“ handelt von den Abenteuern einer Gruppe von Hackern. Dabei ist sie nicht nur radikal in der Wahl ihrer erzählerischen und visuellen Mittel – auch der Vertrieb passt zur Serie. Man bekommt sie über Tauschbörsen im Netz

Die Serie kursiert in P2P-Netzwerken wie die Filme, die die Hacker raubkopieren„The Scene“ handelt vom Umorganisieren der Wirtschafts- und Wissensordnung

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

Wir sehen auf den Computermonitor von Brian Sandro. Der New Yorker Student sitzt am Rechner, und tut, was die meisten Computerarbeiter an ihrem Rechner tun. Er schreibt E-Mails, surft durchs Internet und chattet mit seinen Bekannten. Wir sehen, wie er Programme startet und auf Websites klickt. Bildschirm-Fenster öffnen und schließen sich auf dem Windows XP Desktop, Buchstaben scrollen über den Bildschirm, und Sandro tippt und tippt und tippt. In einem Webcam-Fenster sehen wir ihn mit versteinertem Gesichtsausdruck am Rechner sitzen und gebannt auf den Monitor starren.

Auf den Computermonitor glotzen, auf dem jemand vor sich hin arbeitet? Das klingt ungefähr so aufregend wie Wandfarbe beim Trocknen zuzugucken. Doch Brian Sandro ist nicht irgendeine Computerdrohne. Sandro gehört zu einer Hacker-Gruppe, die im Internet „w4r3z“ (sprich: wares) verbreiten: illegale Versionen von aktuellen Kinofilmen, die über Peer-2-Peer Netzwerke wie Kazaa oder Limewire in der ganzen Welt verbreitet werden.

Brian Sandro ist der Held einer neuen Serie namens „The Scene“. Ihre bisher zehn Teile spielen sämtlich auf dem Computerbildschirm von Sandro und seiner Clique. Und sie sind auch nur auf dem Computermonitor zu sehen. Denn wie die Filme, die Sandros Gruppe raubkopiert, kursiert die Serie ausschließlich in den Tauschbörsen und P2P-Netzwerken des Internets.

Um in der „Scene“ der Raubkopierer und Filmpiraten Ansehen zu gewinnen, laden Sandro und seine Gang die neuesten Hollywood-Blockbuster ins Netz am besten noch vor dem Kinostart in den USA. Um immer die aktuellsten Filme zu bekommen, pflegt Sandro seine Kontakte zu Angestellten in DVD-Presswerken und in der Filmindustrie. Hat er eine DVD mit einem neuen Film bekommen, organisiert er das „Rippen“ und die Veröffentlichung im Internet.

Seine Helfershelfer, die die Pseudonyme Teflon, Trooper und c0da tragen, sind reine Internet-Bekanntschaften; er hat sie nie persönlich getroffen. Sie agieren nicht aus Profitgier. Ihnen geht es nicht ums Geld verdienen, sondern um Reputation in der „Scene“. Und es ist erstaunlich und spannend, wie aus dem Getippe einer Handvoll „Screennames“ in dieser Serie plötzlich einzelne Charaktere entstehen und wie sich zwischen ihnen dramatische Konflikte entwickeln.

Die Filesharing-Börsen, die Sandro und Co in „The Scene“ bestücken, werden von der Musik- wie der Filmindustrie gern als der Hauptgrund für ihre Umsatzeinbrüche in den letzten Jahren dargestellt. In Gerichtsverfahren und in Pressestatements haben Vertreter der Medienindustrie daher immer wieder den Eindruck erweckt, dass schon die reine Existenz von Tauschbörsen ein Verbrechen darstellt. Das ist nicht nur rechtlich zweifelhaft. Es hat vor allem die Industrie davon abgehalten, die Möglichkeiten dieses unglaublich effektiven, neuen Vertriebswegs zu nutzen. Nun ist es eine kleine amerikanische Webdesign-Firma namens Jun Group, die als Erster versucht, ein Medienangebot zu machen, welches das Potenzial von P2P auslotet, indem sie „The Scene“ ausschließlich online vertreibt. „Wir wollten das erste fortlaufende Videoprogramm machen, das sich speziell an Filesharer richtet“, sagt Drehbuchautor Mitchell Reichgut. „Und wir wollten das offensiv und originell machen.“

Finanziert wird die Serie durch Sponsoren, deren Produkte und Websites in die Handlung eingeflochten werden – das ist wenigstens die Theorie. Tatsächlich hat eine Skateboard-Firma die ersten beiden Folgen finanziert, und Brian Sandro surft einmal kurz auf deren Websites vorbei. Angeblich soll danach der Server der Firma fast unter dem Ansturm der Surfer zusammengebrochen sein. Doch neue Sponsoren konnten seither nicht akquiriert werden, und daher produziert die Jun Group die Serie inzwischen auf eigene Kosten. Dabei wird sie nicht arm: Wegen der ungewöhnlichen Machart von „The Scene“ kostet eine Folge nur rund 600 Dollar.

Die Macher schätzen, dass bisher mehrere hunderttausend User in der ganzen Welt die Low-Budget-Produktion heruntergeladen haben – genaue Zahlen sind wegen der dezentralen Struktur von Filesharing-Netzwerken nicht zu bekommen. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass ein 20-minütiges Video, das so billig war, dass es jeder Filmstudent von seinem Ersparten bezahlen könnte, ein erstaunlich großes, internationales Publikum erreicht hat – und das ohne irgendwelche Werbung oder Berichterstattung jenseits der Nischenmedien der Scene.

„Wir sehen Filesharing als ein neues und sich blitzschnell entwickelndes Massenmedium“, schreiben die Macher von „The Scene“ auf ihrer Website, „und wir glauben, dass man mit Sponsoren ein Finanzierungsmodell entwickeln kann, von dem alle etwas haben. Die Produzenten werden vorab bezahlt. Die Sponsoren erreichen ihre Zielgruppe. Und die Konsumenten können ein Programm herunterladen und weiterverbreiten, ohne sich strafbar zu machen.“ Die Sendung steht unter dem „Creative Commons Copyright Agreement“, das der amerikanische Juraprofessor Lawrence Lessig für digitale Inhalte entwickelt hat. Das besagt, dass jeder ein geschütztes Werk kopieren und weiterverbreiten kann, so lange er damit keinen Profit macht.

Obwohl „The Scene“ mit klar gewerblichen Ambitionen gemacht wurde, ist die Serie nicht nur sehr unterhaltsam, sondern auch formal radikal. Es hat etwas sehr verwirrendes, wenn auf dem eigenen Desktop ein Video läuft, das die Vorgänge auf einem anderen Desktop zeigt. Auf der Kinoleinwand könnte man diesen Effekt kaum wiederholen, und auf dem Fernsehmonitor kann man schlicht nicht die kleinen Buchstaben lesen, mit denen Sandro chattet und mailt. Die Serie ist darum im besten Sinne medial selbstreferenziell. „Wir wollten dem Zuschauer das Gefühl vermitteln, dass sie die ‚Scene‘ wirklich selbst miterleben“, sagt Drehbuchschreiber Reichgut. „Und wir wollten etwas machen, das ganz auf den Computer zugeschnitten ist. Uns ist aufgefallen, dass der meisten Sachen im Netz ursprünglich für ein anderes Medium gedacht war. Wir wollten etwas machen, das ganz für das Internet gemacht ist.“

So ist den Machern von „The Scene“ nicht nur ein einzigartiges Stück Desktop-Experimental-Film gelungen. Nebenbei haben sie auch eins der lebendigsten Stücke Entertainment geschaffen, das von den neuen Medien handelt, die zur Zeit unser Leben verändern.

„The Scene“ zeigt ein unaufgeregtes und verblüffend alltägliches Bild von Verbrechen und Fehden in jener Welt, die seit dem gleichnamigen Film auch als Matrix bekannt ist. In New York sitzt ein Student an seinem Computer, und „rippt“ neue Kinofilme. Innerhalb einer einzigen Nacht verbreiten sich diese Filme im Netz. Wenige Stunden später haben nicht nur Filesharer in der ganzen Welt diese Filme auf der Festplatte. Filmpiraten in China und Malaysia veröffentlichen sie wieder auf DVDs, die in kürzester Zeit in halb Asien für weniger als einen Dollar auf dem Schwarzmarkt verkauft werden.

Studenten und südostasiatische Kleinkriminelle an ihren Rechnern mit DSL-Anschluss: Das sind die Figuren, die die amerikanischen Hollywood-Studios und die Software-Konzerne zur Zeit um ihre Renditen bangen lassen. So zeichnet „The Scene“ ein eindrückliches Bild von einer neuen Weltordnung, in der der ungehemmte Fluss der Daten den ökonomischen Status quo unterminiert. Filesharing wird zwar das Wohlstandsgefälle zwischen erster und dritter Welt vorerst nicht wirklich erschüttern – so sehr die Justiziare und Lobbyisten von Microsoft oder der Motion Picture Association of America (MPAA) auch über die Datenpiraten in China die Hände ringen mögen. Aber es hat auf jeden Fall eine Prozess in Gang gesetzt, den viele Intellektuelle in der Dritten Welt als „redistribution of wealth“ interpretieren.

Dieser Prozess wird in „The Scene“ vorgeführt, kommentiert wird er nicht. An keiner Stelle reflektieren die Protagonisten ihr Tun. Würde man sie fragen, würden sie wahrscheinlich das viel zitierte Hacker-Glaubensbekenntnis bemühen: „Information wants to be free.“ Doch eigentlich geht es ihnen vor allem darum, in der Scene durch Zugang zu den neuesten Filmen Ansehen zu erringen. Dass sie so eine Dynamik in Gang setzen, die in den Chefetagen der Medienindustrie für Existenzängste sorgt, ist für sie allenfalls ein Nebenprodukt ihrer Aktivitäten.

Die Produzenten der Serie bemühen sich um Neutralität: „Die Show soll Piraterie nicht verdammen“, sagt Reichgut. „Das heißt aber nicht, dass wir sie unterstützen. Die Serie ist reine Fiktion, und sie soll einen Teil unserer Gesellschaft auf authentische Art und Weise darstellen. Es geht nicht darum, ein Urteil zu fällen, ob das, was die Figuren machen, richtig oder falsch ist.“

In der Szene selbst wird die Serie kritisch beurteilt. Viele halten sie für eine Propagandamaßnahme, die heimlich von Unterhaltungskonzernen wie Sony finanziert wird. Eine Hackergruppe hat sogar schon eine eigene Parodie gemacht, die ebenfalls umsonst im Internet verbreitet wird: „Teh scene“, ganz offensichtlich eine Videoamateur-Produktion voller unglaublich schlichtem und unglaublich komischem Pennälerhumor. Auch hier versucht eine Hackergruppe, Spielfilme im Netz zu verbreiten, stellt sich dabei aber so dumm wie möglich an.

Zusammen demonstrieren „The Scene“ und „Teh Scene“, was mit den Mitteln, die Heimcomputer und Internet ihren Usern zur Verfügung stellen, inzwischen möglich ist. Es ist aufregender und unterhaltsamer als vieles, was von der internationalen Unterhaltungsindustrie produziert wird. Und es handelt von der Umorganisation einer Wirtschafts- und Wissensordnung unter den Bedingungen einer digitalen Ökonomie. Das traditionelle Erzählkino hat für diese Dynamik der Informationsgesellschaft noch keine Bilder gefunden.

Ende des 19. Jahrhundert sendeten die Gebrüder Lumière, die Erfinder der ersten Filmkamera, ihre Kameramänner um die ganze Welt. Sie filmten in Ländern, die damals von Europa noch unerreichbar weit weg schienen: Indien, China, die USA, Brasilien. Diese Kameramänner führten ihre Filme aus der ganzen Welt auf ihren Reisen auch vor. Sobald die Bilder laufen gelernt hatten, begannen sie auch, rund um den Globus zu kursieren.

Durch das Internet und durch Filesharing haben die Bilder jetzt das Fließen gelernt – das Fließen durch unkontrollierbare Datennetze rund um die vernetzte Welt. Und davor fürchtet sich die Unterhaltungsindustrie wahrscheinlich zu Recht.

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