Achtung, der Briefträger liest mit

Geschickt verflochten: Domenico Daras italienischer Dorfroman „Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall“

Domenico Dara: „Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall“. Aus dem Italienischen von Anja Mehrmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 480 Seiten, 23 Euro

Von Mira Nagel

Die Geschichte spielt in Girifalco, einem beschaulichen Dorf im südlichen Italien der sechziger Jahre. In seinem Debütroman, der in Italien sehr begeistert aufgenommen wurde, beschreibt Domenico Dara eine Welt, in der zwischen Hügeln und Olivenhainen noch alles in Ordnung zu sein scheint.

Im Mittelpunkt steht die Geschichte von einem Mann, der sich beim Beobachten seiner Mitmenschen am wohlsten fühlt. Nicht nur durch die mit Gardinen behangenen Fenster späht der Postbote in das Leben der Dorfbewohner, er öffnet auch die Briefe seiner Kunden, schreibt sie ab, archiviert sie und geht dabei mit kriminologischer Genauigkeit vor. Wenn es sein muss, greift er auch schon mal in die Korrespondenzen ein: etwa, als es darum geht, dem Dorfkommunisten das Gewissen zu erleichtern, oder aber um eine außereheliche Liebschaft zu verhindern.

In Nebensträngen fließen die kleinen Geschichten der Dorfbewohner vor sich hin, werden fallen gelassen und wieder aufgenommen. Das geschickte Verflechten mit der Haupterzählung sorgt dafür, dass man als LeserIn erfasst wird von den großen und kleinen Tragödien, Affären und Machenschaften der Dorfbewohner. Mit seiner bildhaften Sprache gelingt es Dara, die/den LeserIn durch die Gassen von Girifalco wandern zu lassen. Etwa, indem er von den Häusern erzählt, „die sich aneinander drängten wie Oliven in einer Faust“, oder wenn der verlassene Nachbarort an eine „leere Korbflasche Wein nach dem Fest“ erinnert. Die dicht gestreuten Vergleiche wirken nie bemüht – sondern wie nebensächlich und irgendwie charmant.

Die Geschichte an sich gerät ins Rollen, als dem Postboten ein Liebesbrief in die Hände fällt, der nicht nur an ein Jahre zurückliegendes Verbrechen erinnert, sondern auch mit dessen eigener tragischer Liebesgeschichte verstrickt ist. Über die Art und Weise, mit der der Postbote mit seiner Vergangenheit umgeht, und die Vehemenz, mit der er sich in das Leben seiner Mitmenschen stürzt, erzählt Dara die Geschichte eines Mannes, der sich, in Bezug auf sich selbst, längst in eine fatalistische Haltung zurückgezogen hat. Ganz subtil kommt man so dem Protagonisten näher – und gleichzeitig baut der Roman Spannung auf. Hat man zu Beginn noch den Eindruck einer harmlosen Erzählung, die ganz situativ und eher horizontal voranschreitet, nimmt die Geschichte irgendwann Fahrt auf, schlägt Haken und spielt dabei mit den Erwartungen der LeserInnen.

Zufall, Fügung, aber auch Vergänglichkeit – davon handelt das Buch im Großen. Verhandelt werden diese Themen nicht nur durch die philosophischen Ausschweifungen des ­Protagonisten, der beständig über die „Zerbrechlichkeit der Existenz“ sinniert, sondern auch viel subtiler dadurch, wie die Geschichte konzipiert ist, wie die unterschiedlichen Geschichten, die der Roman erzählt, miteinander verflochten sind. Es ist tatsächlich, wie der Zweittitel verheißt, „eine kurze Geschichte über den Zufall“.