Das letzte Gebet

„Mach da nicht mit, ich sehe doch, wie sehr du leidest“

AUS NEWE DEKALIMSUSANNE KNAUL

„Es ist wie bei einer Vergewaltigung“, sagt Tsvia Rublin. „Du musst dich zur Wehr setzen, auch wenn der Angreifer stärker ist als du.“ Die 20-Jährige weiß, dass der Kampf verloren ist, auch wenn sie es noch immer nicht wahrhaben will. Es ist kurz vor dem Moment, an dem die Soldaten und Polizisten die Synagoge von Newe Dekalim stürmen und die rund 1.000 jungen Abzugsgegner notfalls mit Gewalt nach draußen tragen werden. Am frühen Mittwochmorgen begann die Evakuierung der größten jüdischen Siedlung im Gaza-Streifen. Gestern waren neben der Synagoge noch etwa hundert private Häuser bewohnt.

Tsvia sitzt mit ihrer Freundin Danit Gold am Eingang zum Gebetshaus der Frauen. Beide sind Kinder amerikanischer Einwanderer, beide religiös erzogen, beide aus der jüdischen Siedlung Karnej Schomron im Westjordanland. Schräg gegenüber vom Gebetshaus der Frauen liegt das der Männer, dazwischen ein vielleicht 500 Quadratmeter großer Hof, auf dem die Rucksäcke der Aktivisten zu Haufen aufgetürmt sind. In einer Ecke liegen quer über einem Stapel Matratzen ausgestreckt zwei vielleicht 12-Jährige und schlafen. Manche spielen Karten, andere beschmieren sich Weißbrot mit Schokoladencreme. Das massive Sicherheitsaufgebot vor den Fenstern und unten auf der Straße scheint niemanden großartig zu beunruhigen. Siegessicher stehen ein paar Jugendliche auf dem Betondach und lassen die große orangefarbene Flagge von Gusch Katif, dem größten Siedlungsblock, im Wind flattern.

Am frühen Sonntagmorgen haben sich Tsvia und Danit in die militärische Sperrzone eingeschlichen. „Wir sind 20 Kilometer weit gelaufen“, sagt die zartgliedrige Tsvia, dann wurden sie von den Soldaten abgefangen und wieder zurückgeschickt, „evakuiert“, wie Danit hinzufügt. Geschafft haben sie es schließlich mit einem Möbelwagen, der nach Newe Dekalim fuhr, um die Einrichtung einer freiwillig abziehenden Familie abzutransportieren. Der Fahrer versteckte die beiden jungen Frauen im hinteren Wagenteil. Als am Mittwochmittag die Synagoge besetzt wurde, waren die beiden sofort dabei.

„Dies ist die schwerste Hürde“, sorgte sich Polizeisprecher Avi Selba, wenige Stunden vor dem Abzug. „Hier werden wir Gewalt anwenden müssen.“ Die letzten Familien in Newe Dekalim waren am Morgen zwar unter tränenreichem Protest, aber insgesamt friedlich abgezogen. Minutenlang standen drei Frauen umarmt vor dem Bus, der sie wegbringen sollte, während die Soldaten teils bedrückt, teils unbewegt das traurige Schauspiel beobachteten. Menachem Gay, Grundschullehrer und Vater von sieben Kindern, zog sich freundlich zwei Soldaten heran zu einem letzten Tänzchen vor seinem Haus, bevor er ins Auto stieg. „Das Auge weint, aber das Herz ist glücklich“, rief er auf dem Weg nach Jerusalem, wo er seinen Herrgott an der Klagemauer um Rat befragen will, bevor er sich überlegt, wo er wohnen wird. Bis zur letzten Minute setzten die Siedler ihre Versuche fort, die Sicherheitskräfte von ihrer Mission abzubringen. „Du kannst jetzt noch aufhören“, ruft eine Siedlerin unmittelbar vor ihrer Evakuierung einer Soldatin zu, die von den eigenen Gefühlen überwältigt wurde. „Rette dich, mach da nicht mit. Ich sehe doch, wie schwer es dir fällt“, setzt die Siedlerin fort, als eine Soldatin antwortet: „Es fällt uns alles schwer.“

Über Lautsprecher, die auf die Sicherheitskräfte gerichtet sind, ertönt aus der Synagoge wieder und wieder die Aufzeichnung einer Ansprache von Israels Premierminister Ariel Scharon, der Soldaten, die „sich nicht in der Lage sehen, einen Befehl auszuüben“, rät, sich an ihren Kommandanten zu wenden. Niemand werde dazu gezwungen, gegen das eigene Gewissen zu handeln. Ein verzweifelter Appell zur Befehlsverweigerung.

In dem Gebetshaus der Frauen ist, als der Rabbiner noch einmal ans Pult geht, kaum noch ein Stehplatz zu ergattern. Mit lauter Stimme fallen hunderte Frauen in den von ihm angestimmten Gesang mit ein: „Höre mein Gebet, Herr, und wenn meine Liebe dich erreicht, dann wende dein Gesicht nicht ab an diesem traurigen Tag.“ Die Halle ist von dem Gesang erfüllt, die Frauen singen zum Teil mit geschlossenen Augen oder weinend. Tsvia hält die Hände vor ihr Gesicht.

„Das gleiche Prinzip, das hier gilt, gilt für Karnej Schomron“, sagt sie. „Wenn wir hier nicht leben dürfen, dann können wir auch nicht in Karnej Schomron leben oder in Tel Aviv.“ Für die beiden Freundinnen Tsvia und Danit beginnt in Newe Dekalim der Kampf um das eigene Zuhause im Westjordanland, da sie Angst haben, dass auch das irgendwann geräumt werden wird. Sie sind hartnäckig, bereit sich an die Möbeleinrichtung in der Synagoge anzuketten.

„Passt auf die Bänke auf“, warnt der Rabbi der Gemeinde, als ein paar junge Frauen sie in Richtung Tür schieben, um die Eingänge damit zu blockieren. „Die wollen wir mitnehmen“, meint der Rabbi, und die Mädchen lassen sofort von ihnen ab. So aggressiv die jungen Abzugsgegner bisweilen gegen die israelischen Sicherheitskräfte vorgehen und sie mit Glühbirnen bewerfen, die sie vorher mit Farbe gefüllt haben, so gefügsam sind sie gegenüber ihren Lehrern. Trotz der kaum erträglichen Hitze, zu wenigen Matratzen und kaum ausreichenden sanitären Anlagen geht es unter den vielen Menschen auffallend ruhig und ordentlich zu.

Um drei Uhr am Nachmittag beginnt die Räumung. „Ab sofort seid ihr illegal in der Synagoge. Wir bitten euch, rauszukommen“, ruft ein Polizeikommandant durch das Megafon. Die Aktivisten gießen Öl auf den schräg aufwärts verlaufenden Zugang zur Synagogenanlage. Doch die Sicherheitskräfte sind darauf vorbereitet und nehmen in leeren Wasserflaschen und Eimern Sand mit. Unten parken derweil rund zehn ganz normale Linienbusse, in denen die letzten Evakuierten aus Newe Dekalim abtransportiert werden sollen.

„Fährt der nach Jerusalem?“, fragt einer der Aktivisten, der dem Aufruf des Polizeikommandanten, freiwillig abzuziehen, offenbar nur zu gern gefolgt ist. „Nein“, antwortet ihm einer der neben dem Bus stehenden Soldaten sichtlich amüsiert: „Entweder Ashkelon oder Beerschewa.“ Die Soldaten verteilen den Sand auf den Zugang und stürmen im Laufschritt die Anlage, während aus den Fenstern und vom Synagogendach Farbbomben, Eier, Wasserflaschen und Müll auf sie geworfen wird. „Soldat, Polizist, rühr das Gotteshaus nicht an“, ruft es per Lautsprecher aus der Synagoge. „Gebt auf, wir lieben euch“, appelliert der Polizeikommandant.

Einen nach dem anderen tragen die Polizisten raus und verfrachten ihn in einen der Busse. Es geht langsam voran. Kaum eine Hand voll der jungen Abzugsgegner ergibt sich freiwillig. „Sie sind gewalttätig“, sagt ein Soldat, der eben einen der Aktivisten herausgeholt hat und sich nun eine Zigarettenpause gönnt. „Sie haken sich untereinander ein und schlagen auf uns ein.“ Mit Tritten und Ellenbogenhieben wehrt sich ein Evakuierter gegen die vier Polizisten, die ihn in den Bus verfrachten. Wut und Schmerz stehen ihm im Gesicht. „Du bist kein Jude“, ruft er den Sicherheitsleuten immer wieder zu, während die Polizisten an die Evakuierten im Bus schon Wasser und Zigaretten austeilen. „Das Volk Israel wird euch nicht verzeihen.“ Aus den Lautsprechern der Synagoge kommt inzwischen das „Schemah Israel“, das Totengebet der Juden, allerdings nur die erste Zeile, dann ertönt wieder die Stimme Scharons und sein Rat an die von Gewissensbissen geplagten Soldaten.